Kapitel 16 - Wunschhandel

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Kapitel 16

Wunschhandel


~Sabrina~
8. Moja 80'024 ☼IV - Kummermeer, Azifik, Twos

Mit auf den Rücken und an die Wand geketteten Händen wurde das Alltäglichste zu einem Akt der Würdelosigkeit. Zu Beginn kümmerte einen das noch und man tat sein Bestes, doch irgendwann kam der Punkt, an dem man jede Ehre vergass.
Die Piraten hatten ihr Wasser, Schiffszwieback und etwas Kartoffelreste gebracht, was sie durstig runtergeleert und trotz des unwillkommenen Geschmacks nur so verschlungen hatte. Wenn man Hunger hatte, schmeckte alles ... irgendwie.
Nach dem Essen hätte sie gerne etwas geschlafen, doch das schien unmöglich. Sie hatte sich bemüht, eine Haltung zu finden, in der ihr nicht irgendwas weh tat oder einfach nur zu unbequem war, der Erfolg blieb jedoch aus. Schliesslich hatte die Müdigkeit ihr einen Dienst erwiesen und sie in einen tiefen Schlaf fallen lassen, der beinahe schon an Bewusstlosigkeit grenzte.
Als sie wieder erwachte, hatte sie ganz und gar ihr Zeitgefühl verloren. Kopf und linker Oberarm taten noch immer weh und ihr Rücken war steif wie ein Bügelbrett. Vergeblich versuchte sie, letzteres zu beheben, indem sie sich streckte und dabei ein gequältes »Hmpf« ausstiess.
»Man gewöhnt sich dran.«
Ihr Herz machte einen Satz und sie zuckte so weit zurück, wie ihre Ketten es erlaubten. Als sie sich in die Richtung wandte, aus der die Stimme gekommen war, erblickte sie zwischen den Gitterstäben das Gesicht eines Jungen klemmen. Er war etwa in ihrem Alter, sehr blass und das blonde Haar hing ihm in strähnigen Locken in die tiefe Stirn. Seine Lippen waren bläulich - ein Tintenwesen. Wie sie schien er ein Gefangener zu sein, was er ihr bestätigte, als er sich vorstellte und dabei auf seine Ketten hinwies: »Entschuldigt, ich wollte Euch nicht erschrecken. M-mein Name ist Amadeus Minnet ... Ich würde Euch ja gern die Hand reichen, doch leider sind uns diese ja buchstäblich gebunden.«
»S-Sabrina Beltran«, antwortete sie, als sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte und klirrte bestätigend mit ihren Ketten. »Wir werden uns auf ein Nicken beschränken müssen.«
Der junge Mann lächelte scheu, jedoch mit tiefen Grübchen, um die ihn jeder Beachboy beneidet hätte, und musterte sie mit verhohlener Neugier. »Entschuldigt, Mylady, aber stimmt es, was die Piraten einander erzählen? Ihr seid die Eisprinzessin?«
Es war regelrecht beschämend, ihre Identität zuzugeben. »Das ist wohl so. Tut mir leid, dass ich nicht mehr zu bieten habe.«
»Und ich dachte schon, es wäre Seemannsgarn!« Amadeus schien es überhaupt nicht zu stören, dass sie in Ketten lag. Seine schokoladenbraunen Augen leuchteten auf. »Ich hatte Küchendienst, da gingen die ersten Gerüchte um, die Herrscherin sei an Deck eingefangen worden. Und als ich dann zurück in meine Zelle gebracht worden bin, lagt Ihr da! Es ist so eine Ehre, Euch kennenzulernen!«
»Lass die Höflichkeitsform weg. Ich bin hier eingesperrt wie du.«
Das schmälerte Amadeus' Lächeln nun doch. »Wie seid ... bist du denn überhaupt auf der Jolly Roger gelandet? Es ist bald einen Monat her, dass dieses Schiff an Land gelegen ist. Entweder du bist eine ausgezeichnete Versteckspielerin oder ... Ich kenne keine Erklärung.«
Unsicher warf Sabrina einen Blick durch die Gitterstäbe in den Gang dahinter. Dort war eine Wache postiert, doch der Seemann lehnte schlafend an der Wand, den Flachmann weit aus der Brusttasche ragend, ein Trielfaden aus Spucke und Rum klebte ihm am Kinn. - Der würde sie wohl kaum belauschen.
Auch Amadeus beäugte sie einen Moment misstrauisch, bis sie extra schwammig antwortete: »Lange Geschichte. Ein Besuch bei der Verwandtschaft und vor allem eine Begegnung mit meiner Cousine hat mir das eingebrockt ...«
Ihre Zellennachbar horchte auf. »Meinst du etwa Mondkind?«
Sabrina hob die Brauen. »Woher weisst du das?«
Amadeus schluckte schwer und im fahlen Licht der Öllampe, die zwischen den Gitterstäben ihrer Zellen baumelte, schien er noch etwas blasser zu werden. »Ich ... bin einer von ihnen, einer der Verlorenen.« Er blinzelte seine Beklommenheit weg und begann sie sogleich mit Fragen zu löchern: »Wie geht es allen? Haben sie über mich gesprochen? Was hat Peter ihnen erzählt? Wissen die Jungs, was ich getan habe? Und wie geht es Wendy?« Seine Miene wurde tiefbetrübt. »Ich habe ihr versprochen zu schreiben, aber ich konnte nicht. Dieser Hook hat mich ausgetrickst! Sie denkt bestimmt, dass ich tot bin. Das werden sie alle denken. Bei Moja, es tut mir-«
»Halt, warte mal«, bremste Sabrina ihn. »Du warst ein Verlorener? Wie bist du denn hier gelandet?« Noch während sie die Frage stellte, ging ihr ein Lichtlein auf. Ein Verlorener auf demselben Schiff, auf dem auch Naseweis segelte? »Du bist der Feendieb!«, zischte sie. »Du bist der Freund, der Peter verraten hat!«
Amadeus liess die Schultern hängen. »Ja«, gab er mit hörbar belegter Stimme zu. »Und es war der grösste Fehler meines Lebens.«
Der Pirat an der Wand grunzte und liess den Sabberfaden noch etwas länger werden.
Sabrina rutschte so nah es ihre Ketten erlaubten an Amadeus' Zelle heran und hakte nach: »Warum hast du das denn getan?«
Der Junge blieb wo er war. Er behielt den Kopf gesenkt und starrte die Planken an.  »Oh da gibt es viele Gründe. Jahrhundertealter Frust, Vergeltung, diese dämliche, aber so, so verlockende Hoffnung auf ein anderes, besseres Leben ...«
»Was hat Peter dir denn getan?«
Amadeus schnaubte. »Peter ist ein kleiner Junge mit einer alten, verbitterten Seele. Ich bin seit Beginn an seiner Seite, war eines der ersten Kinder, das er damals in Sywarn von der Strasse gesammelt hatte und mit denen er seine Bande gründete. Ich war dabei, als er nach Modo reiste und die Darlings mit sich brachte, woraufhin er von den Herrschern Aodhan und Berfin zum Verlorenen erklärt und auf Nimmerland verbannt worden war. Oh wäre ich ihm doch nicht so blind gefolgt ...«
»Moment«, unterbrach sie ihn. »Ist er dafür verbannt worden? Weil er die Darling-Kinder nach Twos brachte?«
Amadeus nickte. »Das war, bevor die damaligen Herrscher beschlossen hatten, die Weltenportale unzugänglich zu machen. Trotzdem war es schon damals verboten, nach Modo zu reisen, geschweige denn Fremde von dort nach Twos zu bringen. Tja und Peter hat all das getan. Ganze dreimal.«
»Warum hat er sie denn mitgenommen? Wusste er denn nichts von diesen Gesetzen?«
Der Gefangene lachte düster. »Natürlich wusste er es. Aber so war Peter nun einmal. Er glaubte wohl, für ihn würden sie nicht gelten. Warum er sie mitgenommen hat? Ich vermute, er hatte ein Auge auf Wendy geworfen, doch die wollte nicht ohne ihre Brüder gehen.« Ein scheues Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht auf, das jedoch schnell verschwand, als er traurig hinzufügte: »Ich vermute, dass Peter mich wegen Wendy so auf dem Kieker hatte. Er war eifersüchtig auf uns. Wie hätte sie ihn auch mögen können, nachdem er sie in diese Welt gelockt hatte, aus der sie nie wieder heimkehren durfte? Denn auch das war das Gesetz. Wer nach Twos kam, musste dortbleiben.«
Das war ja alles sehr aufschlussreich. »Du bist Peter also auf Nimmerland gefolgt, obwohl du unschuldig warst?«
Er nickte matt. »Sind wir alle. Wolke, Bolle, Wendy, ihre Brüder ... Wo hätten wir auch sonst hinsollen? Wir Strassenkinder hatten nichts, bevor wir Peter kennengelernt hatten und die Darlings waren fremd in dieser Welt.«
»Das erklärt aber nicht, warum du ihn bestohlen hast und mit diesen Piraten handeln wolltest.«
Er legte den Kopf in den Nacken, als wöge er auf einmal Tonnen. »Ich wollte endlich weg von dieser Insel«, erklärte er schleppend. »Eines Tages erreichte mich eine heimliche semiontische Nachricht, unterzeichnet mit ~FJJH. In diesem Schreiben versprach man mir all das, was ich mir so lange gewünscht hatte. So sehr, dass ich auch dann nicht zurückschreckte, als ich mich mit dem Schreiber traf und erkannte, wer er war.«
»Käpt'n Hook.«
Amadeus nickte mit flatternden Lidern. »Er bot mir an, mich mit seinem Schiff auf Festland zu bringen. - Da war endlich ein Weg, heil von dieser verfluchten Gefängnisinsel runterzukommen.« Das Ganze nahm ihn sichtlich mit. Er bebte. »Ich hatte mir vorgestellt, wie ich in eine Stadt reisen und dort Arbeit nehmen würde. Ehrliche, gute Arbeit, keine Taschendiebereien, wie wir es in unserer Bandenzeit in Sywarn getan hatten. Vielleicht hätte ich sogar eine Ausbildung machen können. Als Tischler, Schmied, Müller ... Und von dem Lohn hätte ich mir einen kleinen Kutter gekauft, mit dem ich dann wieder zur Insel gesegelt wäre, um Wendy, ihre Brüder, alle Unschuldigen mitzunehmen, hätten sie gewollt. Ich wollte keinen von ihnen mit auf die Jolly Roger nehmen, es waren ja noch immer Piraten und selbst ich traute ihnen nicht gänzlich. Und doch genug, um mich auf einen Handel mit ihnen einzulassen.« Erneut schluckte er hörbar. »Ich sollte ihm nur Naseweis bringen. Das war alles.«
»Und das hast du dann auch getan«, stellte sie entkräftet fest und dachte an den glimmenden Embryo in dem Likörfläschchen.
Der Junge seufzte tief und lehnte die Stirn an einen Gitterstab. »Ich war so naiv. Ich schrieb Wendy eine Nachricht, dass ich bald zu ihr zurückkommen und ihr bis dahin schreiben würde. Wohin ich wollte und warum, liess ich jedoch aus. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen machen würde. Ich schlich mich in Peters Zimmer, als er schlief und fing Naseweis ein, das war so einfach. Ich hätte Skrupel haben sollen; trotz allem war Peter mein bester Freund gewesen, wir hatten so viel zusammen durchgemacht ... Aber ich denke, dass ich nun bekommen habe, was ich verdiene.« Er schob mit einem blossen Fuss die Hose über die Wade des anderen Beins hoch, sodass Sabrina die Brandwunden sehen konnte. Sie waren noch nicht verheilt, schienen an einigen Stellen entzündet, doch die Formen der Krusten war klar erkennbar: Unten die Lilie der Inker und darüber die eingekreiste gebrochene Feder unter dem A der Antagonisten.
»Oh hey«, machte sie leise und legte ihrerseits den Kopf zur Seite, damit er ihre Narbe sehen konnte. »Partnerlook.« Traurig deutete sie mit einem Nicken auf die Lilie. »Das da fehlt mir aber.«
»Dieses Blut ist ein Fluch«, seufzte er. »Ich brachte Hook die Fee und er liess mich auf sein Schiff. Wir segelten davon und alles schien in Ordnung, Ich ass mit den Piraten zu Abend, bekam eine Hängematte im Mannschaftsschlafraum, doch als ich am nächsten Morgen erwachte, lag ich bereits in Ketten.«
»Ich verstehe das nicht«, murmelte sie, den Blick auf die schlafende Wache gerichtet, der noch immer der Sabber über die spröden, bläulichen Lippen tropfte. »Wie können diese Piraten anderen Tintenwesen so was antun? Sie sind doch selbst Tintenwesen!«
Amadeus zuckte die Schultern. »So ist das nun einmal.« Nun rutschte er doch neben sie an die Zellwand. »Blut ist vielleicht dicker als Wasser, doch beides versickert im Weg, den das Schicksal für uns gelegt hat.«
Sie runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Sie sind die Bösen in ihren Geschichten. Also sind sie es auch in dieser. Es gibt keine Wahl zu fällen, Richtig oder Falsch stehen nicht zur Diskussion, denn man ist bereits ein Teil von Falsch.«
»Das Böse kämpft also gegen das Gute«, seufzte sie. »Was für dumme Prinzipien!«
»So ist es nun einmal«, wiederholte Amadeus.
»Aber das muss doch nicht sein«, meinte sie kopfschüttelnd. »Es ist nicht immer alles nur schwarz und weiss.«

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now