Kapitel 14 - Die Verlorenen

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Kapitel 14

Die Verlorenen


~Sabrina~
28. Cecily 80'024 ☼IV – Nimmerland, Bolwin, Twos

Wie immer war es seltsam, nach stundenlangem Fliegen wieder auf festem Boden zu stehen, doch dieses Mal fühlte es sich mehr denn je an, als wären sie auf einem fremden Planeten gelandet, denn das Gras auf Nimmerland war blau wie Lapislazuli.
Fasziniert griff Sabrina in die Wiese und liess sich die Halme durch die Finger gleiten. – Sie fühlten sich ganz normal an. Voll verblüffter Begeisterung drehte sie sich um die eigene Achse und liess den Blick über den ebenfalls blauen Wald wandern, der die weite Lichtung umgab. Sie konnte kaum abwarten, die Insel bei Tageslicht zu sehen...
»Interessante Flora«, meinte der Hutmacher, als er aus seiner Gondel ausstieg und die langen Glieder streckte. »Die fand ich schon das letzte Mal sehr eindrücklich, als ich hier war.«
»Mit Papa?«
Jeremy lächelte sanft und nickte.
»Wie alt war er da?«, fragte sie hungrig vor Neugier.
Er kratzte sich die Bartstoppeln. »Uff... Etwa drei oder vier Jahre jünger als du, hätte ich gesagt.« Nun begann er zu grinsen. »Ein cleverer Kerl, frech wie ein Faun und so impulsiv, dass die Funken flogen.«
»Bis auf Ersteres klingt das, als würde Mile stark nach ihm kommen«, lachte sie, während sie Erils Speer entgegennahm, damit dieser die Hände fürs Absteigen freihatte.
»Oh ja, sie gleichen einander sehr, das sah ich auf den ersten Blick, aber auch du hast viel von ihm.«
Sie hob die Brauen. »Ach ja?« Eigentlich hatte sie sich immer sehr mit ihrer Mutter identifiziert. Ähnlichkeiten zu ihrem Vater fand sie nur an ihrer Nase.
»Ignatz war genauso unbeugsam wie du. Er liess sich nicht biegen und schon gar nicht brechen, dafür war er zu tapfer. Er hatte sich nie eine Meinung aufdrängen lassen und sich sein eigenes Bild von der Welt gemacht.«
Sabrina schnaubte skeptisch. »Nicht wirklich Eigenschaften, mit denen ich mich bezeichnen würde. Aber du siehst das in mir?«
»Oh doch und aber ja!«, trällerte er. »Du wirst sehen. Die wahren Stärken eines Menschen sind meist verborgen, bis es darauf ankommt.«
»Klopft Ihr wieder kluge Sprüche, Hutmacher?« Taami tauchte hinter Arseel auf, gefolgt von Hänsel.
Gekonnt warf Topper die Haare zurück und verdrehte die schwarz umrahmten Augen. »Wäre ich nur Poet anstelle von Hüter geworden...«
Eril landete neben Sabrina im Gras rollte den Kopf, sodass sein vom Flug steifer Nacken knackte, dann nahm er ihr seinen Speer wieder ab und fragte in die Runde: »Wie sieht es aus? Klopfen wir an und sehen, ob wer zu Hause ist?« Er nickte in Richtung Mitte der Lichtung, wo auf einer Anhöhe eine wirklich riesige und bestimmt uralte Linde stand, das saphirblaue Blätterkleid wie ein Paradiesvogel sein Gefieder stolz zur Schau tragend.
»Wie jetzt? Peter Pan lebt in dem Baum?«, fragte sie, während ihre kleine Gruppe über die blaue Wiese marschierte. Über ihnen erklang das Krächzen irgendwelcher Krähen. Ob es ein schlechtes Omen war, dass sie über ihnen kreisten?
»Alle Verlorenen leben darin«, erklärte Taami. »Also eigentlich nicht in dem Baum... sondern eher... d-darunter... Oh...« Mit einem Mal kippte die Lamia vornüber und wäre böse auf einem kleinen, scharfen Felsen aufgeschlagen, wäre Eril nicht vorgeschnellt, um sie aufzufangen.
»Taami?« Er stemmte sich gegen ihren kraftlosen Körper und bettete sie sanft in das hohe Gras. »Was ist mit dir?«
Sie stöhnte auf, fuhr sich übers Gesicht, versuchte aber schon wieder, sich aufzurichten, doch Eril hielt sie davon ab. »Ach nichts...«, murmelte sie. »Mir ist eben nur kurz schwarz vor Augen geworden...«
»Habt Ihr nicht genug getrunken?«, erkundigte sich der Hutmacher, der bereits einen Trinkschlauch aus seinem Zylinder fischte, um ihn ihr zu reichen.
»Eigentlich nicht... « Trotzdem nahm sie ein paar tiefe Schlucke, dann gab sie Topper sein Wasser zurück.
»Schwindelt Ihr oft? Habt Ihr Euch vorher schon nicht gut gefühlt oder kam das gerade ganz plötzlich?«
»Nein und... Es kam aus dem nichts«, antwortete sie, während sie sich von dem Elf auf die Füsse helfen liess.
»Du glühst ja!« Eril legte ihr eine Hand auf Wangen und Stirn. »Du fühlst dich ganz fiebrig an!«
»Lasst mich mal sehen.« Jeremy warf den Trinkschlauch in seinen Hut zurück und zog stattdessen eine Handvoll Steinchen heraus, die leicht bläulich leuchteten. Damit ausgerüstet trat er vor Taami und wies sie an, den Mund zu öffnen und »Aaah« zu machen. Mit dem Licht der Steinchen späte er ihr in den Rachen, doch schon schüttelte er den Kopf. »Mit den Wyrselsteinen kann ich nicht viel erkennen. Ich werde mir das später genauer ansehen müssen.«
Taami winkte ab. »Wird kaum das Bronzefieber sein...«
Jeremy machte ein ernstes Gesicht. »Macht darüber lieber keine Witze, Offizierin Sadaf. So plötzlich, wie das kam...«
»Das Bronzefieber«, erkläre Hänsel Sabrina freundlicherweise, »ist eine Infektionskrankheit, die auf dem Kontinent Persravi vor einigen Jahrhunderten die Hälfte der Bevölkerung dahingerafft hat und auch heute noch jährlich tausende von Opfer fordert. Im Norden Arkans hatte die Krankheit auch gewütet, bis die Wiruri, die Heiler-Kaste der Elfen, einen Weg fand, sie zu behandeln.«
Erils Mandelaugen weiteten sich. »Taami stammt aus Persravi! Ihr Vater hatte das Bronzefieber, deshalb war ihre Familie nach Arkan gekommen!«
»Das Bronzefieber wird nicht vererbt, man wird damit durch den Austausch von Körperflüssigkeiten angesteckt. So lang ihr keine Flöhe habt oder die Offizierin knutscht, werdet ihr nicht angesteckt, also haltet alle mal die Füsse still«, seufzte der Hutmacher. »Noch haben wir ohnehin keine Diagnose!«
»Brauchen wir auch nicht«, meinte Taami und schüttelte sich, wie um ihren Schwächeanfall so loswerden zu können. »Es geht schon wieder, weiter jetzt.« Auf ihren Speer gestützt wankte sie um den Felsen herum, der ihr beinahe das Genick gebrochen hätte und marschierte stur weiter.
»Behaltet sie im Auge«, wies Jeremy Eril an. »Aber kommt ihr nicht zu nahe, nur falls es tatsächlich das Bronzefieber ist.«

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now