Kapitel 8 - Ein Flüstern, ein Kuss, ein Schrei

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Kapitel 8

Ein Flüstern, ein Kuss, ein Schrei


~Mile~
5. Cecily 80'024 ☼IV – Delánsee, Turdidae, Twos

Nach zwei Tagen hatten sie die Grenze von Keo nach Turdidae überquert. Das war laut Hänsel gut, denn in Turdidae gab es keine Grauen, denn dieses Reich war das letzte der Menschen, das noch nicht unter Kontrolle der Antagonisten stand.
Die natürliche Grenze zwischen Keo und Turdidae war der Verlauf der Namida, eines breiten Flusses, der schliesslich in den Delánsee mündete, über dessen zugefrorene Oberfläche sie nun ihre Reise fortsetzten.
Mile hatte so seine Mühe mit gefrorenen Seen; seine Eltern waren tot auf einem gefunden worden. Die ›Twosi‹, wie Red, Hänsel und Gretel sich selbst bezeichneten, schienen aber noch ein viel grösseres Problem damit zu haben.
»Du weisst nicht, was darunter lauert«, hatte Hänsel ihm beim Frühstück im Käfig, dessen Plane sie vor dem Schneegestöber draussen schützte, leise zugemurrt, während er auf seinem Trockenfleisch gekaut hatte. »Kelpies, Kraken, Nixen...«
Deshalb mussten sie auch so leise wie möglich sein, während sie über das Eis fuhren. Selbst die Zugtiere, Dasher und Dancer, wie Sabrina die Rentiere getauft hatte, schienen das zu spüren, denn nur sehr selten gaben sie ein Schnauben von sich und aufs Röhren verzichteten sie sogar ganz...
Hänsel musste wissen, wovon er sprach, denn von Beruf waren er und seine Zwillingsschwester Monsterjäger. Früher hatten die beiden jedes Untier kaltgemacht, für dessen Kopf der Preis stimmte. Doch seit dem Putsch und der Machtübername der Antagonisten hatte sich das Blatt gewendet und aus dem Jäger war der Gejagte geworden, das hatten sie den Beltrans jedenfalls erzählt.
Als wäre die nagende Stille, in die sie sich hüllen mussten, nicht schon genug, hatte sich das Wetter sehr verschlechtert. Immer wieder mussten sie anhalten, sich im Käfig zusammenkauern, die Wände mit Decken isolieren und warten, bis die Schneestürme, regelrechte Blizzards, vorüberzogen.
So auch jetzt, als sie mal wieder zu fünft in dem Käfig kauerten. Hänsel und Gretel versuchten mit dem Kompass auf seinem Handgelenk und der Karte auf ihren Rippen herauszufinden, ob sie noch den richtigen Kurs hatten, Red untersuchte Oskars Wunden, die sich zum Leidwesen der beiden entzündet hatten, die Leiche lag noch immer in der Ecke, hatte aber wie durch ein Wunder nicht zu stinken begonnen, was sie vermutlich den tiefen Temperaturen zu verdanken hatten und die Geschwister Beltran sassen nutzlos daneben.
»Wir sollten unser Blut nutzen, um dem Rat eine Nachricht zu senden«, zischte Hänsel nun schon zum x-ten Mal an diesem und den letzten Tagen. »Sie werden jemanden schicken, der uns abholt.«
»Nein«, antwortete Red genauso knapp wie bestimmt, während sie Oskars Wunde mit einem feuchten Lappen abtupfte. Die Schlummertulpe war bis auf die allerletzte Notration aufgebraucht, weshalb sie nun so sparsam wie möglich damit umging. Somit gab Oskar bei jeder Berührung ein herzzerreissendes Winseln von sich.
»Warum nicht? Was wäre die Alternative? Unsere Möchtegern-Herrscher ihre Götter dazu zwingen lassen, dass sie uns helfen?«, wollte Gretel wissen.
Ihr Bruder schnaubte . »Das wäre Wahnsinn! Den Göttern sind sie, mit Verlaub, nicht gewachsen!«
»Es wäre nicht wahnsinniger, als hier weiter durch die Kälte zu stapfen! - Warum benutzen wir das Blut nicht?«
, fauchte Gretel.An Red gewandt fragte sie boshaft lächelnd: »Willst du dir die Schmach ersparen, Deserteurin?«
Mile horchte auf. ›Deserteurin?‹
Die Rote tat so, als hätte sie es nicht gehört, streichelte ihrem Wolf beruhigend das Fell und flüsterte: »Schh, Kleiner. Halte durch.«
»Du wirst dich dem Rat ohnehin stellen müssen«, zündelte Gretel unerbittlich weiter. »Ich bin zwar kein Tier-Medici, aber dass deine Töle Fieber hat, sehe sogar ich. Du musst uns bis nach Turdus begleiten, an der Narbe sind die nicht gut genug ausgerüstet. Dem können nur noch die Wiruri helfen, sonst ist er Ghulfutter!«
»Gretel!«, mahnte Hänsel seine Schwester mit Nachdruck, doch die liess nicht locker.
»Kommt schon, Kommandantin. Ihr werdet schon nicht vor ein Tribunal gezerrt werden. Schliesslich bringt Ihr den Rebellen die Herrscher der Harmonie! Jedenfalls den Lichterlord. Bei dem blonden Häuflein Elend da drüben bin ich mir noch nicht so sicher.« Sie schenkte Sabrina einen abschätzigen Blick, den diese jedoch gekonnt mit gleicher Münze heimzahlte.
Herrscher oder Lichterlord - So nannten ihn Hänsel und Gretel und er kam nicht umhin, zu glauben, dass dies mit der der Erkenntnis, dass er Feuer aus dem Nichts entzünden konnte, zusammenhing. Ihrer aller Erkenntnis. Mile hatte noch immer keine Erklärung für seine neue Superkraft und die Twosi wollten ihm seine dies betreffenden tausend Fragen auch nicht beantworten. Jedenfalls wollte Red das nicht und Mile hatte den Verdacht, dass sie es deshalb auch den Björkson-Zwillingen aus dem freien Land ›Guerrael‹ - als diese hatten Hänsel und Gretel sich ihnen unterdessen vorgestellt - verboten hatte, ihn darüber aufzuklären. Jedenfalls wichen sie ihm jedes Mal aus, wenn er versuchte, mehr zu erfahren.
»Du kannst so nicht mit der Kommandantin reden, Gretel!«, zischte Hänsel seiner Schwester zu, was diese jedoch nur noch mehr aufzupeitschen schien.
»Pha!«, machte sie so laut, wie Mile es sich seit Tagen nicht mehr zu sein getraute. »Sie hat es selbst gesagt. Wir sind nicht mehr bei der Armee. Sie hat aufgehört, unsere Kommandantin zu sein, als sie sich entschied, uns zu verraten, uns im Verlies der Kristalltürme zurückzulassen und einfach abzuhauen!«
Diese Anschuldigung ergaben für Mile nur wenig Sinn, was ihn zu frustrieren begann, doch bei Red schienen sie ins Schwarze zu treffen, denn sie erstarrte.
»Manchmal frage ich mich echt, wie du mein Zwilling sein kannst«, brummte Hänsel grimmig und liess sich mit verschränkten Armen gegen die mit Decken behangenen Gitter fallen.
»Jetzt tu nicht so, als würdest du dich nicht verraten fühlen!«, schnaubte Gretel leise und gab ihm einen Klaps gegen den Oberarm.
»Hey, jetzt macht mal halblang«, versuchte er, Red zu helfen. »Worum geht es denn hierbei?« Er hatte genug davon, dass ihm alles vorenthalten wurde!
»Lass gut sein«, seufzte Red und widmete sich wieder ihrer Arbeit.
»Pha!«, machte Gretel wieder, nur nicht so laut wie zuvor. Wäre sie gestanden, hätte sie nun sicher mit dem Fuss aufgestampft. Natürlich auch leise. »Hättest du wohl gern, dass dein leicht entzündlicher Verehrer davon nichts zu hören kriegt!« Sie formte die Hände zu einem Trichter und hielt sie sich vor den Mund, um so zu tun, als würde sie es in die Welt hinausschreien. »Red Farkash war die Kommandantin des Stützpunktes in Aramesia, bis die Grauen ihn vor rund dreissig Jahren eingenommen haben.«
»D-dreissig?«, wiederholte Mile und musterte Red. So alt konnte sie doch gar nicht sein!
»Alle Buntbluter wurden versklavt oder umgebracht und die Tintenwesen haben sie nach Tempus gebracht und ins Verlies geworfen, um ihnen ihr Blut zu stehlen«, fuhr Gretel fort, ohne auf ihn Acht zu nehmen. »Und sobald sich die erste Gelegenheit bot, ist sie abgehauen. Sie hat nicht einmal versucht, ihren Kampfgefährten, ihren Verbündeten, ihren Freunden zu helfen! Und als sie frei war, ist sie zu den Rebellen zurückgekehrt? Nein! Lieber hat sie sich im Wald versteckt. Und nun traut sie sich nicht mehr, vor die Rebellen zu treten, kann nicht einmal gradestehen für ihre Taten.« Sie liess die Hände sinken und mit treffend ehrlichen Enttäuschung zischte sie: »Wie feige!«
Nun schien es auch Red zu viel zu werden. Mit peitschendem Umhang wirbelte sie herum. »Ich hätte dich mal sehen wollen, nach allem, was-« Sie stockte, schluckte, ihr Blick flackerte. »Hätte ich euch mitnehmen können, hätte ich es getan, glaubt mir.«
Hänsel seufzte. »Ach komm, ist schon in Ordnung. Gretel und ich haben es gerade so lebendig da raus geschafft, aber allzu weit sind wir nicht gekommen, wie du sehen kannst. Wir haben auch nicht mehr als uns selbst und den Kleinen befreien können.« Traurig deutete er auf die Leiche in der Ecke. »Wenn der nicht gerade wie durch Zufall in die gleiche Zelle wie wir gesperrt worden wäre ...« Er liess die Schultern sinken. »Ach was, vielleicht wäre er dann wenigstens noch am Leben ...«
»Den Kleinen?«, hakte Sabrina betroffen nach. »Es ist also ein Kind?«
Auch Mile war entsetzt. »Warum schleppt ihr die Leiche eines Kindes mit euch rum?!«
»Er war noch nicht tot, als wir abgehauen sind.« Hänsel machte ein so grimmiges Gesicht, dass seine tätowierte Narbe sich wie ein Fluss zwischen dem Gebirge aus Falten auf seiner Stirn schlängelte. »Wir wurden aus unserem Gefängnistrakt evakuiert, da sich dort einige Insassen mit der Pestilenz infiziert hatten. Deshalb wurden wir in andere Zellen gesperrt, mit anderen Leuten. So lernten wir den Kleinen kennen. Pinocchio hiess er.«
»P-Pinocchio? Der Junge aus Holz? Der, der ein ›richtiger Junge‹ werden wollte?«, fragte Mile aufgeregt. Nun wollte er doch zu gern das Laken von der Leiche ziehen. Wie lang wohl seine Nase war?
»Aus Holz war er nicht«, antwortete der Hüne langsam und sah ihn dabei an, als wäre er derjenige, der gerade Märchen erzählte.
»Ein richtiger Junge aber auch nicht«, ergänzte Gretel. »Der Kerl sah aus wie ein fleischgewordener Flickenteppich. Solche Wesen habe ich schon einmal in Lexika gesehen. Das war ein Homunculus. Nur leben solche Viecher eigentlich nur ein paar Tage, aber diesen haben wir Wochen leben sehen. Lag vielleicht an seinem Tintenblut – wer weiss?«
»Ein Homunculus ist ein künstlich erschaffener Mensch, ein Mensch ohne Seele«, erklärte Hänsel den Geschwistern Beltran freundlicherweise. »Solche zu erschaffen, ist eigentlich verboten, da es ein grausiges Werk ist. Man setzt den Körper aus Leichenteilen zusammen. Dass jemand so etwas mit einem Kind gemacht hat, ist ... widerwärtig! Oft geht dabei etwas schief und die Kreatur leidet Qualen bis zu ihrem Tod. Dass so ein Wesen Tintenblut haben kann, hätte ich, bevor ich den Jungen sah, nicht für möglich gehalten ...«
»Jedenfalls kam eines Abends der Kleine auf uns zu und verlangte, dass wir fliehen und ihn mitnehmen müssten«, schilderte Gretel weiter. »Er behauptete, er habe wichtige Informationen, die den Verlauf des Krieges bestimmen würden.«
»Und ihr habt ihm geglaubt?«, fragte Red und betrachtete mit gerunzelter Stirn die in Leinen gewickelte Leiche.
»Anfangs nicht«, brummte der Hüne. »Doch irgendwas war mit dem Jungen, denn die Antagonisten liessen ihn immer wieder zu sich bringen. Wir versuchten, ihn auszufragen, mehr zu erfahren, doch der Junge verriet uns nichts. Er beharrte darauf, dass wir ihn befreien und zu seinem Vater, einem sogenannten Geppetto, bringen sollten. Der sei bei den Rebellen in Turdidae zu finden. Also glaubten wir ihm irgendwann und begannen, unsere Flucht zu arrangieren.«
»Wie?«, wollte Red wissen. »Ich habe noch nie von jemandem sonst gehört, der es abgesehen von mir da raus geschafft hat.«
»Es waren auch weniger wir, die das in der Hand hatten«, gab Hänsel zu, der einer giftigen Bemerkung seiner Schwester zuvorkam. »Der Widerstand hat mit uns Kontakt aufgenommen.«
»Es gibt in Tempus noch einen Widerstand?« Die Rote schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich dachte, die Antagonisten hätten diese Bewegung längst im Keim erstickt.«
»Nicht alle«, schmunzelte Hänsel. »Sie sind nicht viele, aber genug, um zwei Guerraeli lebendig aus der Hölle zu schleusen.«
»Tja, für den Homunculus ist es leider nicht so glatt gelaufen«, spottete Gretel. »Eines Tages brachten die Soldaten ihn im Koma liegend zurück. Wir haben ihn trotzdem mitgenommen, als die Widerstandskämpfer uns aus der Zelle schleusten. Sie hatten eine Lücke im Patrouillennetz der Grauen entdeckt und dieses genutzt. Durch die Kanalisation und ein paar einsturzgefährdete, uralte Zwergentunnel sind wir aus der Stadt gelangt.«
Hänsel seufzte. »Der Junge war zäh. Er hielt fast eine Woche durch. Wir hatten versucht, in Sywarn einen Medici aufzutreiben, aber wir haben keinen gefunden. Als er dann tot war, konnten wir ihn nicht einfach dort lassen. Wir hatten vor, ihn nach Palyas zu bringen, um ihn dort von einem Nekromanten, einem alten Bekannten von uns, seine Geheimnisse von der toten Zunge zu locken. Wir stiegen in Sywarn auf ein Schiff nach Parall, doch dort erwarteten uns bereits die Inker.«
»Der verfluchte Bastard von Nekromant hat uns verraten. Wir hätten ihn und seine Machenschaften nie tolerieren dürfen. Ein Schwarzmagier bleibt ein Schwarzmagier, egal ob er ganz nett wirkt und einen mal auf einen Kessel Gulasch eingeladen hat.« Gretel spuckte verächtlich zu Boden.
»Jetzt sind wir klüger«, bestätigte sie ihr Zwillingsbruder. Dann nickte er Red zu. »Wir hatten Glück, dass die Inker eigentlich auf dem Weg nach Villeverre waren, sonst hätten die uns gleich wieder nach Tempus gebracht und wir wären noch ein weiteres Jahrzehnt im Kerker der Kristalltürme vermodert.«
Glücklicherweise verstand die Rote, dass dies wohl die Art eines Guerraelis war, ein Friedensangebot zu machen und sie willigte ebenfalls mit einem Nicken und einem schmalen Lächeln ein.
»Toll!«, rief Gretel, die genauso viel Taktgefühl wie Lautstärkeregulation besass. »Und da wir uns ja jetzt alle wieder liebhaben, schlage ich vor, wir benutzen endlich die verdammte Tinte, um den Rat der Rebellen um Hilfe zu bitten, damit wir nicht auf diesem verschissenen See erfrieren!«
Das Lächeln auf Reds Lippen verschwand wieder. »Nein!« Sie stapfte zur Käfigtür und spähte hinaus. »Es hat zu schneien aufgehört. Wir können weiter.« Schon sprang sie in den Schnee und liess zwei frustrierte Guerraeli, zwei verwirrte Berliner, einen fiebrigen Wolf und eine Kinderleiche auf ihren Fragen sitzen.

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now