Kapitel 29 - Patron und Paladin

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Kapitel 29

Patron und Paladin


~Sabrina~
22. Jomiko 80'024 ☼IV – Hohle Hügel, Jeshin, Twos

Das Raubvogeljunge reckte sich dem Wurm entgegen. Mit dem gekrümmten, grauen Schnabel entriss er ihn der Pinzette und würgte ihn hinab. Kaum war er unten, krähte es nach dem nächsten.
»Falco ist verdammt gefrässig«, lachte Sabrina, während sie sich bemühte, den nächsten Wurm auf die Pinzette zu bekommen. Um an ein paar dieser Viecher zu gelangen, war sie heute früh mit Falk von Bord gegangen, um mit einer Schaufel in der weichen Erde der Hohlen Hügel zu buddeln. Das bereits sein flauschig weisses Kükengefieder verlierende Falkenjunge dankte es ihr, indem es ihr vor Ungeduld fast in den Finger pickte.
»Er heisst nicht ›Falco‹!«, schnaubte Falk, der am Flügel sass und einhändig ein paar Akkorde spielte.
»Wir können ihn aber nicht ewig weiter ›das Küken‹ nennen!«, seufzte sie, während sie den kleinen Falken den letzten Wurm hinabschlingen liess.
»Ich habe einfach noch keinen passenden Namen gefunden!«, erklärte er und begann nun, eine einfache Melodie zu spielen.
Tiger Lily, die Schiffskatze der Jolly Roger, hatte das Küken am Morgen des 10. Jomikos – der Tag, an dem der letzte Marsch der Rebellen begonnen hatte – an Bord gebracht und Falk vor die Kajütentür gelegt. Tatsächlich hatte der kleine Falke noch gelebt und so hatte der Pirat beschlossen, ihn wieder aufzupäppeln. »Würde doch Unglück bringen, wenn ich dem Tier, dem ich meinen Namen zu verdanken habe, schaden würde«, hatte er erklärt und den Vogel bei sich einquartiert.
»Dann beeil dich mal mit dem Namen, sonst bleibt ›Falco‹ fix«, neckte Sabrina den Piraten, stellte die leere Schale mit den Erdresten zur Seite, schloss die Voliere und deckte sie wieder mit dem lichtundurchlässigen Laken zu.
»Namen sind wichtig. Sie sollten nur mit Umsicht vergeben werden«, erklärte Falk, liess die Hand über die Tasten fahren, drehte sich dann zu ihr um, rutschte ein Stück zur Seite und tätschelte mit der flachen Hand den Platz neben sich. »Würdest du vielleicht ein wenig mit mir spielen?«
Energisch schüttelte sie den Kopf. »Ich liebe Musik, aber ich bin total unmusikalisch!«
»Komm schon!«, bettelte er. »Mit nur einer Hand ist es nicht dasselbe.«
Das liess sie sich nun doch erweichen. Seufzend trabte sie zu ihm hinüber, liess sich rechts von ihm auf dem Klavierhocker nieder und legte die Finger so auf die Tasten, wie er es ihr mit der Linken vormachte.
Sie brauchten eine ganze Weile, doch nach etlichen Versuchen hatte Sabrina den Dreh langsam drauf und sie ihren gemeinsamen Rhythmus gefunden.
»Ich wollte früher Pianist werden. Das hat mir wirklich alles bedeutet«, murmelte er irgendwann, als sie eingependelt waren, dass ihre Finger von selbst spielten. »Ich glaube, dass sie mir die Hand amputieren mussten, war der Moment, der mich endgültig in der Zeit stillstehen liess.«
Verwundert sah Sabrina auf. »In der Zeit stillstehen? Was meinst du?«
»Ich bin seit eineinhalbtausend Jahren schon neunzehn«, erklärte er nüchtern. »Ein Tintenwesen altert nicht wie die Sterblichen. Der Geist reift nicht mit dem Körper. Eines Tages geschieht etwas, was dich so sehr erschüttert, dass es dich nie wieder loslässt. Der absolute Tiefpunkt. Und wenn du den nicht verarbeitest, bleibst du einfach stehen. Dein Körper altert nicht mehr, dein Geist reift nicht mehr. Du bleibst in diesem Zustand gefangen. Bei mir war das, als ich erkennen musste, dass ich nie wieder auf dem Klavier spielen würde wie früher und ich niemals Pianist werden konnte.«
Sabrina hob die Brauen. »Nicht ... na ja, du weisst schon ... Nicht die Sache mit deiner Mum?«
Falk hörte auf zu spielen und liess Hand und Haken sinken. »Doch, sicher, aber das war nur der Anfang. Der absolute Tiefpunkt war noch nicht erreicht. Es folgte, dass Peter nicht mehr bei mir bleiben wollte. Er gab mir die Schuld an Mums Tod, sagte, er würde mich hassen und schwor mir, mich irgendwann umzubringen, dann ist er abgehauen. Logischerweise habe ich auch die Arbeit bei dem Fischer verloren, denn was nützte schon ein Einhändiger? Die letzten Ersparnisse brauchte ich schliesslich auf, weil ich alles in meine Hand investierte. Irgendwelche Scharlatane hatten behauptet, sie heilen zu können und so hatte ich mich an diesen irrationalen Wunsch geklammert, irgendwann wieder Klavier spielen zu können. Es war natürlich ein Ding der Unmöglichkeit, denn der Nix hatte mir die Hand praktisch zerfetzt, doch es war die einzige Hoffnung, die mir geblieben war. Doch es war nur aus dem Fenster geschmissenes Geld und irgendwann konnte ich die Miete nicht mehr zahlen und landete auf der Strasse. Ich schlug mich mit Stehlen und kleinen Tagelöhnerarbeiten durch. Meine Rettung war tatsächlich der Segen Kaitous, der auch Klyuss' mit sich brachte, denn als Kind der Meeresgöttin hatte man mich gern mit an Bord. Eine Weile segelte ich mit ihnen, doch nach einem halben Jahr wurden wir von Piraten geentert. Als die erkannten, dass ich ein Kind von Klyuss und Kaitou war, nahmen auch sie mich nur zu gern mit. So wurde ich Teil von Käpt'n Blackbeards Crew.«
»Blackbeard?«, staunte Sabrina.
Falk grinste. »Aye!« Mit einem Blick auf seinen Haken, fuhr er etwas geknickt fort: »Doch die Piraten hielten meine verkrüppelte Hand für unnütz. Sie verlangten von mir, dass ich sie amputierte und durch etwas Brauchbares ersetzte. Und als ich mich schliesslich überreden liess, war das der Tiefpunkt, denn mir wurde klar, dass ich nicht nur jede Hoffnung aufgegeben, sondern irgendwann auch mich verloren hatte. Ich war all das geworden, was ich nie hatte sein wollen. Ein Dieb, der Feind meines Bruders, ein Mörder. Mum hat irgendwie Recht behalten. Ich bin tatsächlich wie mein Vater geworden.«
»Das ist nicht wahr!«, widersprach sie ihm. »Ich weiss nicht, wie du immer darauf kommst, ein schlechter Mensch zu sein. Alles, was du tust, spricht doch vom Gegenteil.«
Überrascht wandte er ihr den Kopf zu. »Ach?«
»Ja doch!«, rief sie frustriert. »Um gut oder ein Held zu sein, muss man keine heroischen Taten vollbringen oder gar immer alles richtig machen. Es geht darum, gute Absichten zu haben, sich selbst hinter das Wohl anderer zu stellen, selbstlos zu handeln und für seine Fehler grade zu stehen. Und das tust du! Herrjeh, ich glaube, dass du sogar ohne Seele und Gewissen noch das Richtige tun würdest. Selbst als du noch auf der Seite der Antagonisten standst, hast du das nur getan, um deine Mutter zurückzubekommen. Und weil du glaubtest, es sei der Wille des Schicksals, dass du zu den Bösen gehörst, hast du versucht, diese Pflicht zu erfüllen. Du bist der aufopferndste Mensch, den ich je kennengelernt habe!«
Sein gerührtes Lächeln wurde spöttisch. »Bist du jung und naiv oder ich alt und dumm?«
Sie grinste. »Ich bin weise! Hast du selbst gesagt!«
»Dann muss ich wohl tatsächlich dumm im Alter geworden sein«, brummte er schmunzelnd.
»Wie viel du schon erlebt haben musst«, meinte sie. »Wie ist das eigentlich so, wenn man schon so alt ist?«
Er antwortete mit einer Gegenfragte: »Findest du es ... gruselig, weil ich so ›alt‹ bin?«
Daran hatte Sabrina noch gar nicht gedacht. Einen Moment dachte sie darüber nach. »Du kommst mir nicht so alt vor! Du hast vermutlich schon viel mehr als ich erlebt, aber ich habe nicht das Gefühl, dass ich dir deshalb in irgendeiner Weise unterlegen bin.«
Er lächelte wieder. »Du bist mir halt einfach zu weise.«
»Nur eine alte Seele.«
»Die habe ich ja auch.« Falk zuckte die Schultern. »Wenn du schon so eine lange Zeit lebst, vergisst du auch viel. Nur Bruchstücke bleiben. Beispielsweise habe ich kaum noch Erinnerungen daran, wie meine Heimatsstadt in Irland ausgesehen hat. Dafür könnte ich dir bis aufs Detail beschreiben, wie ich eines Tages nach der Schule nach Hause kam, in die Küche lief und Mutter weinend am Boden kauernd vorfand, weil mein Vater sie in einem seiner Anfälle mal wieder geschlagen hatte.« Als er ihr betroffenes Gesicht sah, ging er schnell auf etwas anderes ein. »Aber auch die herausragend schönen Momente bleiben, wie als ich das erste Mal auf einem Schiff in See stach!« Seufzend legte er die Finger wieder auf die Tasten. »Du musst dir das vorstellen, als wärst du ein Stein, der in einen Fluss fällt. Du wirst immer weiter gespült, wirst mehr und mehr glattgeschliffen, bis nur noch dein Kern übrigbleibt. So ist es auch mit deinem Charakter. Du wirst immer unkomplizierter, bis es nur doch diese wichtigsten Erinnerungen gibt, die dich zu dem machen, was du bist. Diese Kerneigenschaften, die dich ausmachen.«
Sabrina nicke. »Ich glaube, ich sehe, was du meinst. Bei dir ist das die Reue und der Wunsch, es wieder gut zu machen. Und bei Peter wäre das die Verzweiflung darüber, dass er seine Mutter verloren hat.«
»Rache, dachte ich eher.«
Sie schüttelte den Kopf. »Als er die Chance gehabt hatte, dich umzubringen, hat er es nicht gekonnt.« Mit einem Mal kam sie zu einer Erkenntnis und setzte sie sich gerader hin. »Eigentlich dürfte er dir gar keine Schuld geben. Egal, was in dieser Nacht geschehen wäre. Eure Mutter hätte euch ohne zu zögern zurückgelassen. Und vor allem dich, Falk, hat sie regelrecht kaputt gemacht. Sie hat dir eingeredet, du wärst ein böser Mensch und wie dein Vater. Und Peter hat sie bestimmt auch immer wieder gegen dich aufgehetzt. Daher stammt doch dieses Denken! Also wenn ich die Situation ganz ehrlich beurteilen würde, müsste ich sagen, dass deine Mutter die wahre Schuld trägt.«
Falks Blick flackerte. »Sag so was nicht, sie war meine Mum!«
»Und das spricht sie von allen Fehlern frei?«, schnaubte sie. Himmel, warum war sie auf einmal so zornig auf eine Tote?
»Nein, aber sie konnte doch auch nichts dafür. Mein Vater hat sie geschlagen, er hat sie wahnsinnig gemacht«, verteidigte er seine Mutter.
»Natürlich ist dein Vater ein – es tut mir leid – Monster gewesen. Ohne Zweifel, von ihm ist gar nicht die Rede! Dennoch war deine Mum eine erwachsene Frau und ihr nur Kinder. Ihr wart ihre Schutzbefohlenen. Und als sorgepflichtige Person hatte sie dafür zu sorgen, dass es euch gut geht, egal wie es um sie steht. Wer das nicht kann, darf nicht Mutter oder Vater werden! Wenn man die Verantwortung für ein unschuldiges Leben übernimmt, rechtfertigt die eigene Vergangenheit gar nichts mehr.«
Unter zusammengezogenen Brauen blitzte er sie an. »Aye, da hast du es! Ich bin also das Erzeugnis zweier Monster und hätte nie geboren werden sollen! Ist es das, was du sagen willst?«
Sabrina blieb ruhig und legte ihm sanft eine Hand auf den Haken. »Nein, Falk. Ich will viel mehr sagen, dass all diese Umstände umso mehr davon zeugen, was für ein grossartiger Mensch du bist.«

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt