Kapitel 4 - Von Wahnsinn und Zorn

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Kapitel 4

Von Wahnsinn und Zorn


~Mile~
12. September 2019 - Wolfsbach, Deutschland, Modo

»Hast du eigentlich schon den Führerschein?« Das braune Haar, das frech unter dem pinken Stirnband hervorlugte, wippte fröhlich im Takt der Musik, die aus dem Radio des Pickups schallte.
Mile schüttelte den Kopf und versuchte, den blumigen Duft, den Tanja verströmte, aus der Nase zu kriegen. »Wollte ich eigentlich letztes Jahr machen, aber irgendwie hab ich es verpasst.«
»Gibs zu, du Dummie hast das Geld, das Mama und Papa in ihrem Testament für deinen Führerschein vorgesehen hatten, einfach verprasst.«
Er streckte seiner Schwester die Zunge raus, als Tanja gerade nicht hinsah. »Das ... stimmt so nicht ...«
Tanja lachte. »Ich hab meinen Führerschein auch erst spät gemacht.«
»W-wie alt bist du eigentlich?«, fragte er und bemühte sich, möglichst unschuldig zu klingen, was von Sabrina mit einem Schnauben kommentiert wurde. Seine Schwester war nun schon den ganzen letzten Monat so zickig. Er hatte sich bisher auch nicht um sie bemüht, sie weiterhin während der Schulzeit kaum beachtet. Nur nach der Schule wartete er wie gewohnt auf sie, um mit ihr gemeinsam nach Hause zu fahren. Das Busfahren hatten sie aufgegeben. Stattdessen hatte sich Tanja ihnen als Chauffeur zur Verfügung gestellt, da sie sowieso immer etwa zur gleichen Zeit in die Stadt musste. Das hatte seine Vor- und Nachteile: Einerseits begegneten sie sich somit regelmässiger, was Mile nur begrüsste. Er konnte sich nicht einmal mehr selbst vorschwindeln, keinen Narren an der jungen Frau gefressen zu haben. Andererseits hatten sich somit auch Sabrina und Tanja recht gut befreundet. Zwar wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass seine Schwester endlich Anschluss fand, doch musste es ausgerechnet mit dem Mädchen sein, das er ... na ja ... toll fand?
»Ich bin fünfundzwanzig«, antwortete Tanja und zog die sommersprossige Nase kraus, als sie ihm frech zugrinste. »Zu alt für dich.«
Das kam so unverhofft, dass Mile knallrot anlief und auf einmal nicht mehr wusste, wo er seine Hände verstauen sollte.
Sabrina hingegen schien prächtig unterhalten zu werden, denn sie hatte ein so breites Lachen auf dem Gesicht, wie er es selten an ihr sah.
»Musst du mir so in den Rücken fallen?«, zischte er ihr zu.
»Musst du mich so im Stich lassen?«
»Willst du mal das Steuer übernehmen?«, die Gärtnerin liess den Pickup an den Strassenrand rollen und zog die Handbremse.
Mile staunte. »Echt?«
»Klar!« Schon öffnete sie ihre Tür und sprang vom Fahrersitz. »Sind ja keine hundert Meter mehr bis nach Hause.«
»Halt, halt! Seid ihr lebensmüde?«, wehrte sich Sabrina, doch Mile beugte sich einfach über sie, machte auf und schob sie kurzerhand von ihrem Sitz, sodass er aussteigen konnte.
Als sie alle wieder im Auto sassen, erklärte ihm Tanja, wie der Pickup zu bedienen war. Dabei musste sie sich leicht über ihn lehnen, wodurch ihre Schulter seine berührte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, während er versuchte, sich auf ihre Worte zu konzentrieren.
»Das linke Pedal ist die Kupplung, das in der Mitte die Bremse und das ganz rechts das Gas. Du weisst, was das alles ist?«
Er nickte und rieb sich die vor Aufregung schwitzigen Hände an der Hose ab. »Kenne ich. Der Pater hat mich auch schon fahren lassen.«
»Lenkrad, Schaltung. Die Knöpfe hier sind die Blinker. Das ist der Rückwärtsgang. Noch Fragen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Gut. Dann folg einfach der Landstrasse bis zum Tor. Dann übernehme ich, einverstanden?«
Mile hörte schon gar nicht mehr richtig zu. Er liebte Herausforderungen! Schon hatte er den Fuss auf dem Gas ... und liess den Wagen abschmieren, aber dann schnurrte der Pickup endlich die Strasse hinab.
»Du machst das gut«, lobte Tanja und tätschelte ihm den Arm, was ein kribbeliges Gefühl in seinem Magen auslöste. ›Zu alt für dich, pha!‹ Übermütig trat er auf das Gaspedal und liess den Pickup schneller werden, kurbelte die Fenster runter und streckte Kopf und Arm raus. »Juhuu!«, rief er und lachte. Die letzten Spätsommertage mit ihrer schweren Hitze wurden ihm vom Fahrtwind aus dem verschwitzten Haar geweht. - Er fühlte sich grossartig!
»Jetzt geht es wieder mit ihm durch«, hörte er Sabrina seufzen.
Tanja zog ihn zurück in den Wagen. »Langsam, Grashüpfer!«
Er nickte, entschuldigte sich und konzentrierte sich wieder auf die Strasse. Schon tauchte das Anwesen der Tallos vor ihnen auf und er drosselte das Tempo.
»Gut. Jetzt kannst du mich wieder ans Steuer lassen«, meinte Tanja, doch Mile hatte eine andere Idee: »Lass mich das machen. Ich schaffe das!« Schon drückte er auf die Kupplung und zog an dem Schalthebel.
Tanja zögerte. »Ich weiss nicht, ob das-«
»Das ist keine gute Idee!« Sabrina beugte sich zu ihm rüber. »Lass es, Mile!«
Doch er hörte nicht auf sie. Er wusste, dass er das konnte. Der Pater hatte ihn auch schon fahren lassen. Er hatte sogar einparken dürfen und sich ziemlich gut dabei angestellt. Er konnte das! Er würde es Tanja beweisen! Schon drehte er den Lenker nach rechts, um durch das grosse Tor zu fahren.
»Mile!«
Die Strenge in Tanjas Ruf erschreckte ihn und er wollte auf die Bremse drücken, erwischte stattdessen jedoch irgendwie das Gas. Der Pickup machte einen Satz, instinktiv riss er das Lenkrad herum. Bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, wurden sie nach vorn gerissen, sein Gurt grub sich schmerzhaft in seine Brust und der Airbag explodierte in sein Gesicht.


Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now