Kapitel 33 - Das blinde Herz

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Kapitel 33

Das blinde Herz


~Sabrina~
1. Nalin 80'024 ☼IV – Waldgärten von Wyr, Twos

Sie jagten Nimmertiger aus dem Zelt, der rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her.
Was würde ihm drohen, dem Mörder des Königsmörders, der in purer Selbstjustiz die Strafe des Verurteilten selbst in die Hand genommen hatte? Fürs erste würden sie ihn jedenfalls nicht zu fassen kriegen, denn Nimmertiger wusste genau, wie er unterzutauchen hatte und so verloren sie ihn irgendwann.
Sabrina konnte sich darüber nur freuen. Ihr war Nimmertigers Intervention mehr als recht gewesen. Nur weil irgendeine steinalte Göttin vor sehr langer Zeit diese längst überholten Gesetze niedergeschrieben hatte, musste man solche Grausamkeit walten lassen.
Als sie aus dem Zelt herausgetreten waren, hatte Sabrina und ihre Freunde der Nebel empfangen. Wie ein dicker, milchiger Vorhang, sodass man keine zehn Meter weit blicken konnte.
Sie gehörten zu den letzten, die aus dem Zelt kamen, da sie geblieben waren, um dem letzten Ritual der Enigmanen beizuwohnen, welches die Aufmerksamkeit des Gottes Isra auf ihn lenken sollte, damit dieser ihm die Reise erleichterte. Schweren Herzens hatten sie dann mitansehen müssen, wie seine Leiche abtransportiert worden war. Nur weil es sich bei ihm um ein Tintenwesen handelte, wurde er nicht augenblicklich eingeäschert, wie man es bei dem Attentäter von LaRuh gemacht hatte. Nichtsdestotrotz wurde ihm kein Obolus in den Mund gelegt, sodass er im Nimbus die Überfahrt über den Ahti würde abarbeiten müssen.
»Ich kann nicht fassen, dass sie ihn wirklich hingerichtet haben«, brummte Hänsel, der noch immer vor dem Gerichtszelt stand und ihnen ihre Waffen wieder aushändigte.
»Man kann fast schon von Glück sprechen«, meinte Red, während sie dem Hünen ihr Schwert Fenris abnahm, »dass Pinocchio nicht dabei war. Es wäre schrecklich gewesen, wenn er das hätte mitansehen müssen.«
»Er wollte den Kleinen bestimmt beschützen«, mutmasste Sabrina, die ihre Mondsichelklingen, Ellon'da und dessen Zubehör entgegennahm. »Pinocchio ist noch immer verschwunden. Vielleicht hat ihn ja jemand gekidnappt und Geppetto wurde erpresst?«
»Du denkst, er könnte sich für seinen Jungen geopfert haben?«, brummte Falk, während er seine Pistole und seinen Degen wieder am Gürtel anbrachte.
Sabrina zuckte die Schultern. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum er die Todesstrafe sonst freiwillig wählen sollte.«
»Vielleicht fühlte er sich ja schuldig?«, meinte Jeremy Topper. »Er ist es zweifellos gewesen, er war der Königsmörder. Und Deron war ja eigentlich sein Freund. Er war auch kein Spion der Antagonisten oder derartiges, das konnten die Lauscher aus dem Wirrwarr seiner jethrovernebelten Gedanken herausfiltern.«
»Und was sein Motiv war, konnten sie nicht herausfinden?«, fragte Hänsel, während er dem Hutmacher seine Hüterwaffen zurückgab.
»Nein«, antwortete dieser Kopfschüttelnd, während er sich Schild und Schwert in Nadelform an seinen Frack steckte. »Geppetto war zur Tatzeit des Mordes so sehr auf Drogen, dass seine Erinnerungen völlig löchrig und wahnhaft waren. Ich kann es mir nicht anders erklären, dass er Deron in seinem Wahn umgebracht hat.«
»Es ist bekannt, dass Jethro in zu hohen Dosen Psychosen auslösen können«, bestätigte Red.
Traurig schob sich Jeremy seinen Zylinder zurecht. »Ironie der Schicksalsspinne. Da wird der König der Rebellen ermordet und es steckt nicht einmal eine Intrige der Antagonisten dahinter.«
»Vielleicht wollte er ja auch deshalb sterben«, vermutete Hänsel, der seine Aufgabe nun vollendet hatte und seinen Posten verlassen durfte. »Vielleicht konnte er nicht mit der Schuld leben, den Hoffnungsträger Arkans und somit auch seinen Freund umgebracht zu haben.«
»Wer könnte das schon«, seufzte Sabrina. »Deron war so ein wundervoller Mensch. Ich kann mir – Au!« Verwirrt blickte Sabrina sich nach Red um, die ihr eben einen heftigen Knuff in die Seite versetzt hatte. »Was soll denn-«
»Sieh nur!« Entgeistert deutete die Hybridin in den Nebel. »Bin ich verrückt geworden, oder stehen dort tatsächlich ...«
Sabrina folgte ihrem ausgestreckten Finger, der auf etwas tiefer in den Nebel zeigte ... und keuchte.
Am Rande des Pfades, wo zwischen den bunten Stämmen der Waldgärten von Wyr bereits wieder die Irrlichter tanzten, standen ein Mädchen und ein Rehkitz und winkten ihnen zu.
»Wer sind die?«, fragte Falk, dessen Hand bereits misstrauisch in Richtung Pistolenknauf wanderte.
»Mile hat von diesen Kindern gesprochen«, murmelte Red, die ihrerseits Fenris aus der Scheide zog. »Ich dachte, er hätte halluziniert.«
»Scheinbar nicht«, meinte Sabrina. Zögernd machte sie einen Schritt auf die beiden Geister zu. »Hey ihr«, begrüsste sie sie misstrauisch. »Ich hörte, ihr habt meinem Bruder einen Besuch abgestattet! Dürften wir denn erfahren, wer ihr seid?«
Mit einem Mal wurde sie von einer Art mentalen Schockwelle erfasst, die sie beinahe von den Beinen gerissen hätte.
›Aljona‹, echote die klare Stimme eines Mädchens hundertfach durch Sabrinas Schädel.
›Und Iwan‹, folgte es tiefer, dieses Mal schien ein Junge zu sprechen.
»Alles in Ordnung, Sabrina?«, fragte Falk, der sich eilig an ihre Seite gesellt hatte.
»Ich glaube ... diese Kinder sprechen mit mir«, murmelte sie ein wenig konfus durch das gewaltsame Eindringen in ihren Verstand. »Ihre Namen sind ... Aljona und Iwan.« Wie kamen diese Wesen in ihren Geist? Verwirrt griff sie sich an den Hals, wo sie ihren Traumfängeranhänger vermutete, doch da fiel ihr siedend heiss ein, dass sie den ja Hänsel ausgehändigt hatte. Hastig wandte sie sich zu dem Hünen um. »Wo ist meine Kette?«, fragte sie ihn aufgeregt. »Mit dem Traumfänger?«
»Da ... war nichts mehr in der Truhe«, brummte der Dämonenjäger, der den Blick nicht von den beiden Geistern löste. Seiner Haltung nach zu urteilen, war er bereit, seine Berufung auszuüben, sollten die Kreaturen aus den Waldgärten ihn dazu zwingen. »Aber ich sehe schon, wo dein Schmuck abgeblieben ist, Sabrina.« Mit einem grimmigen Nicken deutete er auf das Mädchen und das Kitz.
›Tut uns leid‹, erklang Aljonas Stimme, die demnach zu dem Geisterkind gehören musste, das nun eine Hand hob und Sabrinas Traumfängerkettchen herabbaumeln liess. ›Wir mussten es Euch wegnehmen, damit Ihr uns hören könnt!‹
›Denn Ihr müsst mit uns kommen‹, erklärte Iwan, was demnach der Name des Kitzes war.
»Mitkommen?«, wiederholte Sabrina verwirrt. »Warum und wohin?«
»Ich würde lieber nicht auf sie eingehen«, knurrte da Hänsel und schob sich in Sabrinas Blickfeld. »Wir dürfen nicht vergessen, wo wir uns befinden. Dies sind die Waldgärten von Wyr. Es gibt keinen gefährlicheren Ort auf dem Kontinent. Bei diesen Erscheinungen könnte es sich um Rachegeister handeln. Vielleicht sogar um die Illusion eines Wirrlings!«
›Wir können helfen!‹, beschwor Aljona da. ›Wir können Euch zeigen, wie Ihr aus den Waldgärten von Wyr hinausfindet!‹
›Und Ihr könnt uns helfen‹, ergänzte Iwan. ›Ihr könnt uns befreien!‹
Sabrina schob sich an Hänsel vorbei. »Wir müssen unbedingt aus den Waldgärten heraus!«, rief sie. »Kennt ihr beiden etwa den Weg?«
›Jeder Weg ist der richtige‹, meinte Aljona.
›Kommt mit und erfahrt alles, was Ihr wissen müsst‹, fuhr Iwan.
Dann begannen die beiden Geister, zurückzuweichen, hinein in den Wald, hinein in den Nebel.
›Kommt mit!‹, flüsterten sie.
Iwan hauchte: ›Kommt!‹
Und Aljona echote: ›Kommt mit!‹
›Kommt, Prinzessin!‹
»Bleibt hier!«, rief Sabrina und stolperte ihnen nach.
»Nicht!«, hörte sie Hänsel hinter sich schimpfen.
»Sabrina!«, rief Falk.
Doch ehe sie sich versah, stand sie auf einmal in Wald und Nebel und wusste nicht mehr, woher sie gekommen war.

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now