Kapitel 42 - Und wenn sie nicht gestorben sind ...

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Kapitel 42

Und wenn sie nicht gestorben sind ...


~Sabrina~
5. Erwaen 80'024 ☼IV – Etamin, Twos

Der Geruch von Feuer weckte sie. Sie schlug die Lider auf und sah für einen Moment nur verschwommen. Verwirrt rieb sie sich die Augen und blinzelte, bis sie wieder klar sehen konnte.
Sie befand sich in einem kleinen, stickigen Raum mit Felswänden, wie in einer Höhle. Die einzige Lichtquelle war ein offenes Feuer in einem Kamin. Der Raum war nur spärlich mit Mobiliar gefüllt. Da standen ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch, eine Kommode und ein deckenhohes Regal, das vor Büchern überquoll.
Verwirrt zog Sabrina sich auf die Beine. Wo zur Hölle war sie hier? Und wo war Revell?
Als sie stand, machte sich ihre Benommenheit wieder bemerkbar und sie erinnerte sich, dass sie ja noch einen halben Zweig Jethro intus hatte. Im Nihil war ihr das nicht aufgefallen, doch jetzt schien sie sich wieder körperlich in Twos zu befinden. Nur wo? Ob das ein Teil des Trips war? Hatte sie sich Revell nur eingebildet?
Sie fuhr sich übers Gesicht. Faritales hatte ja recht gehabt, sie hätte dieses Zeug nicht nehmen sollen! Es gab wohl keine Hoffnung, wenn sie nicht einmal mit Jethro Falk wiedersehen konnte. Dabei hatte sie sich doch nur verabschieden wollen ...
Sie liess ihren Blick erneut durch den Raum schweifen. Auf dem Tisch entdeckte sie ein paar Malutensilien. Ein Tintenfass, Tuschen, Pinsel ... und ein paar zerknüllte Zeichnungen am Boden.
Als nächstes besah sie sich das überfüllte Bücherregal. Es schien nichts Besonderes, einfach nur ein Regal voller ... Sie stutzte. Doch, da war etwas ungewöhnlich! Nicht eines der Bücher trug einen Titel. Nicht am Rücken und auch nicht auf dem Deckel ...
Sie zog eines der Werke heraus. Wie die meisten in dem Regal war es ledergebunden und mit einer Schnur verschlossen. Sie zog an der Schleife und schlug es in der Mitte auf.
»Wow«, entfuhr es ihr, als ihr unzählige, mit Tusche gemalte Zeichnungen, Skizzen und Kritzeleien aus den Seiten entgegensprangen. Sie zeigten Landschaften, Sternbilder, Pflanzen und Wesen, wie sie Sabrina schon in Twos angetroffen hatte, aber auch solche, die ihr noch nie untergekommen waren. Manche von ihnen wirkten so echt wie Schwarz-weiss-Fotografien, andere schienen hektisch aufs Papier geworfen zu sein, sodass einige der Skizzen nur aus unzusammenhängenden Strichen bestanden und auseinanderzufallen schienen. Sie blätterte weiter und entdeckte unzählige weiterer solcher Zeichnungen, die einander teilweise sogar überlappten, ineinanderflossen und verschmolzen. Immer wieder wurden die Zeichnungen von Seiten unterbrochen, die nichts weiter als tausende Linien zeigten, die sich kreuzten oder parallel verliefen. Manche dieser Seiten drückten durch, da so viele der Linien das Papier durchweicht hatten. Es wirkte fast, als hätte ein Kleinkind das Skizzenbuch eines genialen Künstlers in die Hände gekriegt, um es mit seinen Kritzeleien zu verunstalten.
Sabrina schloss das Buch und griff zum nächsten. Auch dieses war von vorne bis hinten mit den wunderschönen Zeichnungen, aber auch den wirren Strichkritzeleien gefüllt. Sie blätterte weiter, bis sie plötzlich auf einer der Seiten ein bekanntes Gesicht entdeckte.
»Mile?«
Neben der Zeichnung einer Kerze und eines schwarzen Fuchses, grinste Sabrina ihr Bruder entgegen. Sein linker Schneidezahn fehlte. Auf diesem Bild war er ungefähr sieben.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Mit zitternden Fingern blätterte sie weiter. Die nächste Seite erschreckte sie viel übler, denn dort fand sie Eira und Ignatz Beltran im Schnee, leblos in den Armen des anderen liegend ...
Sie spürte, wie ihr kalter Schweiss den Rücken hinabrann. »Was ist das hier?«
Hektisch blätterte sie weiter. Sie entdeckte noch mehr. Da war sie selbst, völlig verheult, dann das ernste Gesicht des Paters, Tobi Tallos Rollstuhl, Wilhelm Grimm, die zugeschneite Höhle, in der Red sie gefesselt gehalten hatte, die Hütte ihrer Grossmutter, ihr lockenumrahmtes Gesicht, nur aus feinen Linien bestehend, aber unverkennbar die Hybridin ...
Das Buch entglitt ihren Fingern, doch sie zog gleich den nächsten Band aus dem Regal, blätterte, warf es zur Seite, immer weiter. Monster, Landschaften, Gegenstände, alle möglichen Gesichter, viele bekannte, viel fremde und dann blieb beinahe ihr Herz stehen, als ihr Falk spöttisch entgegenlächelte.
Sie klappte das Buch zu und drückte es an die Brust. Sie hatte schon wieder mit den Tränen zu kämpfen, hatte aber nicht vor, den Kloss in ihrem Hals gewinnen zu lassen.
»Was ist das hier für ein Ort?«
In diesem Moment erklang ein metallische Geräusch, wie wenn jemand einen Schlüssel in ein Schloss steckte.
Beinahe hätten Sabrinas ohnehin schon weiche Knie vor Furcht nachgegeben. Ihr Puls schoss in die Höhe und ohne Zeit zu verschwenden hechtete sie zum Bett, warf sich zu Boden und kroch unter den Rost. Keine Sekunde zu früh, denn schon war der Schlüssel gedreht und die Türfalle schnappte auf.
Sabrina drückte den Kopf auf die verstaubten Dielen und kniff ein Auge zu, um mehr sehen zu können.
Zwei lederne, graue Stiefel schlurften über den Boden, traten ein und gaben für einen Moment den Blick auf den Raum frei, der hinter der Tür lag. Sie erkannte alte Wandmalereien, die ein hohes Fenster umgaben, das den Blick aufs Meer bot, über dem gerade ... mehrere Kiter mit ihren Draconauten auf den Rücken kreisten. Mehr konnte sie nicht erkennen, denn der mutmassliche Besitzer des felsigen Raums warf die Tür wieder zu und schloss sie sorgfältig ab. Er hustete, was irgendwie gedämpft klang, als hätte er einen Helm an und doch war es deutlich genug, sodass Sabrina sein Geschlecht feststellen konnte. Ein Mann ...
Der Fremde hustete erneut und keuchte, als hätte er Schwierigkeiten zu atmen. Er zog den Stuhl zurück und nahm darauf Platz. Dann rumorte es eine Weile, ohne dass Sabrina erkennen konnte, was die Geräusche verursachte. Schliesslich ächzte der Mann und seine Stimme klang nicht länger gedämpft. Er stand auf und trat an den Kamin, wie um sich daran zu wärmen und legte etwas auf dem Stuhl ab.
Sabrina wagte, ein Stück vor zu rutschen, um besser auf den Stuhl und das sehen zu können, was er dort abgelegt hatte. Es war eine Maske. Eine Maske, mit Drachenschuppen überzogen.
Eine Maske, Drachen ... Lag sie etwa unter dem Bett des Geschuppten Grafen?!
Sie keuchte auf und der Mann am Feuer hielt inne.
Sofort kroch Sabrina ein Stück rückwärts, doch der Flachmann an ihrem Gürtel blieb irgendwie am Rost hängen und ehe sie es verhindern konnte, polterte das Fläschchen auf die Dielen.
Der Geschuppte Graf liess alles stehen und liegen und stapfte auf das Bett zu.
Sabrina war unterdessen so weit unter dem Bett zurückgekrochen, dass sie nun gegen die Wand stiess. Sie musste hier weg! Schleunigst! Schon wollte sie sich wieder zurückträumen, doch irgendwas liess sie nicht. Panik erfasste sie. Was würde er tun, wenn er sie hier fand?
›Du musst es sehen!‹, erklang auf einmal Revells Stimme in ihrem Kopf. ›Vertrau mir, du brauchst dich nicht zu fürchten.‹
Der Graf hatte unterdessen das Bett erreicht, er kniete sich hin und spähte unter den Rost.
Das Letzte, was sie sah, war das Gesicht des Geschuppten Grafen. Breit, grobschlächtig und wie bei einer Spinne mit acht Augen bestückt ...


Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterDonde viven las historias. Descúbrelo ahora