Kapitel 43 - Lucky Strike

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Kapitel 43

Lucky Strike


~Theodor~
25. September 2019 – London, United Kingdom, Modo

Der Teppich flog über Peckham, hinweg über Strassen dicht gedrängter Reihenhäuser, Quartiere grauer Betonblöcke und das ein oder andere Einkaufszentrum. Irgendwann strahlten ihnen die Lichter der City entgegen; das London Eye wie ein eigener Stern.
Theodor liess den Teppich einfach fliegen. Er hätte die Finger in die Fransen graben und ihn mit einem leichten Ziehen von seinem Kurs abbringen können, doch wohin hätte er ihn lenken sollen? Also überliess er die Richtung dem Teppich. Wohin der Wind oder das Leben in seinen Fasern ihn auch tragen mochte ...
Der Nieselregen hatte angehalten, rann ihm kalt das Rückgrat hinab, der Flugwind zerrte an ihm. Er fröstelte. Das dünne Jäckchen hielt die feuchte Kälte natürlich kaum ab. Noch immer was sie verklebt vom Blut der Schussverletzung, die nur dank Bonnie geheilt war, als wäre sie nie da gewesen ...
Mit einem schnellen Blick über die Schulter vergewisserte er sich, dass sie noch hinter ihm sass und das tat sie auch. Zusammengekauert über Srijans Leichnam, stumm ins Nichts starrend.
Auch für sie flog der Teppich ins Ungewisse.
Wo sollten sie nun hin?
Unter ihnen rauschte die Themse. Die Touristen auf der Westminster Bridge waren klein wie Ameisen. Jedem von ihnen entging das Wunder aus Woll- und Seidengarnen, denn niemand blickte gen Himmel. Warum auch? Die Lichter der Stadt frassen die Sterne.
Mit Srijans Versterben war auch Annie verschwunden. Er hatte ihren Schrei noch immer im Ohr, das Omen eines sicheren Todes. Es war beunruhigend, wie oft die Menschen in seiner Umgebung starben ...
Vor seinem inneren Auge erschien das Bild des Todes, wie er auf ihn zuschritt, mit seinen Augen ...
Er fröstelte und dieses Mal nicht aufgrund des Regens...
Theodor schüttelte den Kopf und damit die düsteren Gedanken ab. Was war, wenn er doch krank war? Wenn Jareds Schwindel mit der Herzkrankheit nicht einmal gelogen war, was, wenn er doch krank war? Aber eigentlich fühlte er sich nicht krank, vor allem jetzt nicht, seit er mit Sewin diesen Typen umgebracht hatte. Nun hallte ihm Coles Stimme durch den Kopf. »Er ist der Tod, der Sensenmann, das Licht am Ende des Tunnels.« Theodor seufzte. Vielleicht musste er sich tatsächlich mit dem Gedanken anfreunden, dass dies seine neue Realität war. Geister, Todesfüchse, sprechende Vögel und ein Vater, der angeblich der personifizierte Tod war. Er hatte die Wahrheit herausfinden wollen, jetzt musste er lernen, sie zu akzeptieren. So irrwitzig und fantastisch sie auch sein mochte.
»Wir müssen ihn begraben.«
Er hatte nicht bemerkt, dass Bonnie sich neben ihn gesetzt hatte. Mit derselben versteinerten Miene, mit der sie eben noch ins Nichts gestarrt hatte, sah sie der Stadt zu, wie sie unter ihnen vorbeizog. Es war fast wie ein schlechter Scherz, dass sie eben über Bunhill Fields Baumkronen hinwegflogen. Dort trauten sich um diese Zeit nicht einmal die Touristen hin ...
Theodor nickte. »Weisst du schon wo?«, fragte er vorsichtig.
Sie zuckte mit den Schultern. »Wo begräbt man in London eine Leiche?«
Er schwieg, denn er war sich nicht sicher, ob sie eine Antwort von ihm erwartete. Ausserdem fiel ihm nichts ein, was in dieser Situation passend gewirkt hätte. Er hatte keine Erfahrung mit Verlust, ausser mit seinem eigenen. Er wusste nicht, wie man andere tröstete.
Doch da wechselte auf einmal der Teppich in eine andere Richtung, ganz als wüsste er, was ihr nächstes Ziel war ...


~Bonnie~

Sie sprang über die Bordüre des Teppichs, bevor dieser gelandet war. Der Kies unter ihren Sohlen knirschte. Irgendein Tier - vielleicht eine der vielen Katzen, die bei Nacht die Herrschaft über die Stadt an sich rissen – floh in ein nahes Gebüsch.
Sie befanden sich scheinbar auf einem Weg, der links und rechts von zwei begehbaren Plattformen aus Beton gesäumt war. Durch die graffitibeschmierte Backsteinwand hinter ihnen führte eine Unterführung den Weg fort, über der, vom Licht der dortigen Lampen beschienen, eine Strasse verlief. Um sie herum überwucherten Bäume und Sträucher Backstein und Beton, als hätte die Natur diesem Stück der Metropole den Krieg erklärt. Eine Schlacht, die nur sehr langsam, aber unvermeidlich war. Es war September und die Zeiten des Grüns ging langsam vorbei. Noch hatten die Bäume nicht all ihre Blätter verloren, doch die beginnende Verfärbung kündigte die Ankunft des Herbsts an.
Was für ein surrealer Ort ... Dies war nicht die von Landschaftsgärtnern der grossen Parks Londons penibel gepflegte, künstlich angelegte Natur. Dieser Weg ... war echt. Echtes Leben, gewachsen wie die Vegetation es geformt hatte. Der einzige Gärtner hier war Mutter Natur. Als wäre der Weg vor langer Zeit vergessen und sich selbst überlassen worden. Und doch konnte sie über sich Autos fahren hören, als wären sie noch immer in der Grossstadt ...
»Wo sind wir?«, fragte sie überrascht.
Sie spürte, wie es in ihrer Hosentasche zu rumoren begann und sich Gigas in Gestalt eines Kolibris herauskämpfte. »Da gönne ich mir ein paar Stunden Schlaf und schon habt ihr euch verlaufen. War ja klar ...«
Sie verdrehte die Augen. »Als ob. Du hattest Schiss und bist erst jetzt wieder rausgekommen, da wir in Sicherheit sind und festen Boden unter den Füssen haben.«
»Gar nicht wahr«, protestierte der Vogel und landete auf ihrer Schulter. Anders als sie es von ihm gewohnt war, führte er seine Rechtfertigung von dort jedoch nicht weiter aus. Vielleicht war das seine Art, Rücksicht zu nehmen wegen ... Srijan ...
»Crouch End Hill«, verkündete Theodor auf einmal.
Stirnrunzelnd drehte sie sich zu ihm um. »Woher weisst du ...«
Er stand vor einem schwarzen Wegweiser mit grünen Pfeilen, von denen der eine Richtung Highgate Wood und der andere zum Finsbury Park zeigte, in dessen Mitte auf einem Ring der Name des Areals stand.
»Muss man das kennen?«
Er kratzte sich am Lockenkopf und zuckte mit den Schultern. Sie sah, wie sein Blick zwischen ihr und dem Teppich hin- und her zuckte. Sie wusste, welche Frage ihm auf der Zunge lag. Was nun?
Auch der sonst so schwatzhafte Vogel sagte nichts und sah sie nur erwartungsvoll an.
Sie schluckte, denn sie konnte keinem der beiden eine Antwort geben. Der erste Schritt war wohl, Srijan zu begraben. Und ein vergessener Ort war wohl perfekt, um etwas zu verstecken, das nicht gefunden werden sollte ...
Bei dem Gedanken zog sich alles in ihr zusammen. Sie würden seinen Körper irgendwo in der Erde verscharren. Ein Grab ohne Namen. Ihr war schon wieder zum Heulen zumute ...
Wortlos bückte sie sich zu ihrem Fluggefährt hinab und zupfte an einer der Fransen, bis es sich auf Kniehöhe in der Luft befand. Dann begann sie in Richtung Finsbury Park zu laufen, Teppich und Theodor hinterher. »Suchen wir ihm einen schönen Ruheort, das hier ist mir zu nahe an der Strasse ...«
»Und wie willst du das anstellen? Wir haben keine Spaten oder so was dabei.«
»Ich weiss schon, was ich tue ...«

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt