Kapitel 28 - Mondkind

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Kapitel 28

Mondkind


~Sabrina~
9. Jomiko 80'021 ☼IV - Aramesia, Jeshin, Twos

Jeremy Topper musste eindeutig ein Messi sein, denn anders war nicht zu erklären, wie er einen relativ beschaulichen Raum so schnell in ein solches Chaos stürzen konnte. Bücher und Pergamentrollen, Stoffbahnen, Garnrollen, Wollknäule, eingetrocknete Pinsel und Paletten, leere und angefangene Flaschen Alkohol, schmutziges Geschirr, Nadelkissen, Knopfgläser und vieles mehr stapelten sich bis auf Miles Augenhöhe, gefährlich im Wellengang der Jolly Roger wiegend. Von der Decke hingen Traumfänger aus gebogenen Zweigen und weichen Eulenfedern.
»Hereinspaziert, hereinspaziert«, rief der Hutmacher, der ihnen breit und etwas irre lächelnd die Tür in sein vollgestopftes Wunderland aufhielt.
»So sah es schon in seinem Laden in Turdus aus«, raunte Sabrina Falk, Mile, Red und Faritales während des Eintretens zu, die das Chaos mit überraschten Gesichtern begutachteten. Nebelfinger und Mondkind, die nach ihnen hereinkamen, schien der Anblick nicht zu irritieren, vermutlich sahen sie das Chaos nicht zum ersten Mal.
Während sie darauf gewartet hatten, dass der Hutmacher von seiner Sitzung mit Drosselbart zurückgekehrt war, hatten die Geschwister, der Dämon, die Rote, der Pirat, der Albinojunge mit seiner kleinen Schwester einander ihre jüngsten Abenteuer erzählt. Nun wussten alle Bescheid, nur der Hutmacher hatte nur eine sehr knappe Zusammenfassung zu hören gekriegt, denn gleich als er über die Leiter an Deck geklettert war, hatten ihn die Geschwister überfallen und mit Fragen bombardiert, deren Kern bei allen derselbe war: Das Rätsel um Mondkind.
Nur eine Zusammenfassung der Geschehnisse zu kennen, schien Jeremy Topper jedoch gar nicht zu stören. Es wirkte fast so, als hätte er nur darauf gewartet, dass ihn endlich jemand dazu zwang, die Wahrheit zu erzählen, denn er schien voll freudiger Euphorie.
»Setzt euch ... ähm ... irgendwohin«, meinte er gerade, während er einige der Stapel einfach umwarf, sodass das ganze Zeug sich auf dem Boden verteilte und er es mit einigen Tritten unter die beiden Kojen beförden konnte. »Mondkind und die Geschwister Beltran sollen sich auf das Bett setzten. Mir scheint, als würdet ihr die gleich brauchen.« Mit einer schwungvollen Handbewegung beorderte er Nebelfinger, seine kleine Schwester auf die Matratze zu legen.
Auch der Albinojunge hatte einen Ansturm der Geschwister über sich ergehen lassen müssen, denn bei ihm hatten sie zu erst auf Antworten bestanden, doch anders als Topper war er hart geblieben. »Ihr werdet auf den Hutmacher warten müssen«, hatte er nur immer wieder entschuldigend beharrt.
Und nun war es so weit. Sabrina bekam ganz schwitzige Hände bei dem Gedanken, endlich, endlich Antworten zu erhalten. Sie hatte die Schnauze gehörig voll von Geheimnissen und Halbwahrheiten.
»Warum sollen wir denn auf das Bett?«, wollte sie dennoch wissen und setzte sich etwas misstrauisch auf die Koje neben Mondkind, während der Rest ihrer Gruppe sich auf den freigeschaufelten Boden setzte.
»Ihr wollt doch Antworten, nicht?«, plapperte der Hutmacher, während er fahrig das schmutzige Geschirr einsammelte und in seinen Zylinder warf, in dessen Weiten irgendwo ihr Bersten erklang. »Tja und dafür solltet ihr besser liegen.«
»Liegen?«, schnaubte Mile, der sich eben neben sie gesetzt hatte. »Ich dachte, du erklärst uns, wie es weitergeht.«
Jeremy Topper gluckste, doch bevor er etwas sagen konnte, antwortete Mondkind für ihn: »Manche Dinge kann man nur glauben, wenn man sie sehen kann.«
Sabrina erschauerte, als sie ihre eigenen Worte, die sie einst an Red gerichtet hatte, aus dem Mund des Kleinkindes erkannte.
»Was?!«, zischte Nebelfinger entgeistert. »Dann ... haben sie nicht nur zugestimmt, dass sie die Wahrheit erfahren, sie dürfen sie sogar besuchen?!«
Der Hutmacher und das blinde Kind schienen einen vielsagenden Blick durch Mondkinds Augenbinde zu tauschen. Schliesslich erklärte der Hutmacher: »Sie haben es schon vor einer Weile abgesegnet. Doch ich wollte so lange warten, wie nur ging.« An Sabrina gewandt fuhr er fort: »Deshalb konnten wir dir auf Nimmerland noch nichts verraten. Wir durften nicht!«
Verwirrt schüttelte sie den Kopf. »Wer ... wer sind denn sie? Wer hat euch die Erlaubnis gegeben, uns die Wahrheit zu sagen?«
»Ihr werdet sehen, ihr werdet sehen!«, trällerte er nur, während er sich nun auch zu den anderen setzte und den Arm in seinem Hut versenkte. Sie sahen zu, wie er ein komplettes Teeservice, einen scheinbar frisch gebackenen Butterkuchen und zu guter Letzt freudestrahlend eine kleine Phiole mit einer leicht fluoreszierenden Flüssigkeit herauszog. »Tadaaaa! Das wird der Schuss für euren Tee, Beltrans!«
Mile hob die Brauen. »Was ist das? Gift einer radioaktiven Spinne?«
»Oh, das wäre schön. Glaub mir, was hier drin ist, willst du nicht wissen. Ist sowieso ein Geheimrezept der Hüter-Zunft«, säuselte er, während er an der Teekanne schnüffelte. »Puh, Holinder ... oder Holunder. Holländertee hätte uns gerade noch gefehlt.«
»Aye«, stimmte Falk zu und rollte mit den Augen.
Sabrina hatte ein wenig Gewissensbisse. Gerne wäre sie nun für Falk da, um ihm beim Verarbeiten der jüngsten Tragödie mit seinem Bruder zu helfen, doch die Sache mit Mondkind hatte jetzt Vorrang. Schon morgen früh wollten die Rebellen weitermarschieren und da sich die Sache doch etwas komplizierter zu gestalten schien, durften sie diese Aktion nicht vertagen.
Unterdessen hatte der Hutmacher ihnen eingeschenkt und das leuchtende Zeug in ihren Tee gekippt. Nun reichte er ihnen die kitschig geblümten Tassen.
»Und ... was bewirkt das Zeug?«, wollte Sabrina wissen und schielte etwas unbehaglich auf den Grund des Geschirrs.
»Ihr werdet friedlich einschlafen und dann in Mondkinds Verstand reisen«, erklärte Jeremy Topper und seine olivenen Augen leuchteten.
»W-was?!«, machte Mile.
»Oh, da will ich lieber nicht hin«, murmelte Sabrina.
Aufgeregt flatterte Fari auf und liess sich auf ihren Schoss plumpsen. »Ich aber!«
»Mondkinds Verstand, doch das musst du und nein, darfst du nicht. Das ist ein Privileg, das nur den Herrschern zuteilwerden darf«, ratterte der Hutmacher alle drei Antworten nacheinander runter. »Fühlt euch geehrt, Beltrans! Das ist einem Herrscher das letzte Mal vor einer Sonne erlaubt worden!«
»Du wolltest doch wissen, warum wir verbannt worden sind«, meinte nun Nebelfinger bedrückt. »Mondkind wird es euch zeigen.«
»Das wird toll!«, jubelte nun auch Mondkind. »Ich habe noch nie Freunde mitbringen dürfen!«
Sabrina machte den Mund auf, doch dann klappte sie ihn wieder zu. Es machte wohl keinen Sinn, noch mehr Fragen zu stellen, die Antwort würde dieselbe bleiben. Also zog sie sich mit einer Hand ihren Traumfänger-Anhänger über den Kopf und warf ihn Falk zu.
»Gut drauf aufpassen, so lange ich weg bin«, sagte sie und zwinkerte ihm zu, da auch er ein wenig in Sorge zu sein schien.
Da lächelte er. »Wie Ihr wünscht, Prinzessin.«
Die Geschwister versuchten, sich möglichst so in die enge Koje zu legen, dass sie alle drei Platz hatten. So hatte Sabrina zwar Miles Füsse im Gesicht, doch scheinbar würde sie ja ohnehin gleich schlafen. Mondkind legte sich auf Sabrinas Oberschenkel und Miles Schienbeine.
»Ist wirklich keine Sache«, spornte der Hutmacher sie an. »Ist einer Traumreise ähnlich, nur in Gedanken. Für Traumwandler gänzlich ungefährlich.«
»U-und für mich?«, stammelte ihr Bruder, dem die Sache so gar nicht geheuer zu sein schien.
»Also im schlimmsten Fall wirst du eine Gurke.«
Mile blinzelte. »Ist das ein Scherz?«
»Nein. Hat was mit der Mixtur zu tun«, seufzte Jeremy. »Und nun trinkt schon!«
Die Geschwister gehorchten.
Der Hutmacher nickte zufrieden. »Bis auf den letzten Tropfen!«
»Viel Erfolg!«, wünschte Red.
»Bis später«, meinte Falk.
Auch Nebelfinger sagte etwas, doch das bekamen sie schon nicht mehr mit ...

Alte Fassung (2): Twos - Ein Märchen von Sommer und WinterWhere stories live. Discover now