Teil 1.2

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Sie drehte sich um und sah hinauf, um im nächsten Moment ihre Augen fest zu zukneifen und schützend eine Hand über ihr Gesicht zu halten.
Leise hörte sie Gemurmel und spürte, wie der Raum in dem sie gefangen war, leicht wackelte.
Im nächsten Moment griff jemand nach ihrem Arm und sie wurde unsanft hinaus befördert.
Sie landete auf Rasen, spürte wie ihre Knie den Boden berührten und federte mit ihren Armen das Gewicht des Oberkörpers ab.
Panisch blinzelte sie um sich an das grelle Licht zu gewöhnen und bewegte sich dabei so wenig wie möglich, hoffte sie würde so die Aufmerksamkeit von sich ablenken.

"Ein Mädchen?"
"Echt jetzt?" hörte sie hinter sich die Fremden sagen und spürte erneut eine Hand auf ihrer rechten Schulter, doch dieses Mal war sie schneller.
Mit der linken Hand griff sie nach dem Handgelenk der Person und zog sie mit ihrer vollen Kraft nachvorne.
Sie spürte wie ein Oberkörper gegen ihren Rücken stieß und stand auf, um ihren Angreifer mit einem Überschlag auf den Boden zu befördern.
Sie sah einen Moment irritiert auf den Jungen, den sie auf den Rasen gezogen hatte, welcher stöhnte und hustete, bevor er sich vorsichtig aufsetzte und seinen Rücken rieb, welcher verdreckt mit Erde und Gras war.

Sie hatte mit Sträflingen gerechnet, irgendwie eine Art Gefängnis, stattdessen standen vor ihr ungefähr dreißig Jungs, alle ungefähr sechzehn, einige vielleicht etwas älter, die sie verwirrt anstarrten.
Einige grinsten und sahen den einen auf dem Boden an.

"Was-?" fragte sie und starrte mindestens genauso verwirrt zurück.
Einer der Jungen, dunkelhäutig, groß, schwarze Haare, muskulös, drehte ihr den Rücken zu und befahl den anderen die „Box", wie er den Raum nannte, auszuräumen.
Sekunden verstrichen bevor einer von ihnen den Anfang machte und eine der Kisten mit den eingravierten Buchstaben hervorzog.
„W.C. K. E. D." stand auf ihnen.
Obwohl das „O" was sie ertastet hatte in Wahrheit ein „D" war und das „I" nicht existierte, machten diese Reihe Buchstaben keinen Sinn für sie, doch bevor sie länger darüber nachdenken konnte, kam der dunkelhäutige Junge auf sie zu und zog ihre gesamte Aufmerksamkeit auf sich.

"Hey Frischling." sagte er und sah sie dabei an.
Irritiert von dem Wort und der gesamten Situation, wollte sie ihrem Instinkt folgen und wegrennen, doch in dem Moment in dem sie sich um ihre eigene Achse drehte, realisierte sie, dass sie auf einer Lichtung stand, umgeben von vier riesigen Mauern, welche mit Moos und Efeu bestückt waren.
Ein weiteres Mal drehte sie sich um sich selbst und entdeckte in der Mitte der Lichtung ein Haus aus Holz, hinter ihm ein Wald und verteilt auf der Wiese mehrere Weiden für Schweine, Schafe und auch Ziegen liefen herum.
In der Nähe des Waldes waren Hängematten aufgehängt worden, doch niemand befand sich dort.

All das schien so unglaublich unrealistisch, dass sie sich einmal ihren Fingernagel in die Haut rammte, doch auch als sie den Schmerz aufflammem spürte, wurde sie nicht schlauer.

"Ich bin Alby." sagte der Junge und sie zuckte zusammen, fast hatte sie ihn vergessen.
Langsam drehte sie sich um.
"Wo bin ich?" sagte sie statt einer Antwort.
"Auf der Lichtung." antwortete er ihr schlicht.
"Das seh ich." warf sie ihm entgegen und bereute es im selben Moment.
Der Junge zog seine Augenbrauen hoch.
"Hör zu, ich hab gerade wenig Zeit, haben hier viel zu tun."
"Heißt was?"
"Du wartest."
"Worauf?"
"Auf Antworten."
Jetzt war es an ihr die Augenbrauen hochzuziehen.
"Du machst nicht den Eindruck auf mich, als würdest du mir je welche geben."
Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust und sah sich erneut um, doch es hatte sich nichts verändert.
Der Junge seufzte.
"Jetzt die Kurzfassung, später Details."
"Und spar dir deine Fragen für irgendwann auf." fügte er noch hinzu, bevor er sich langsam in Bewegung setzte und ihr bedeutete ihm zu folgen.

"Wir sind die Lichter." startete er seine Aufklärung und deutete auf ein paar der Jungs.
"Wie du kamen wir hier an, konnten uns an nichts außer den eigenen Namen erinnern."
Sie stoppte und riss die Augen auf. Auf einmal wusste sie die Leere, die sie seit sie aufgewacht war verfolgte zuzuordnen.
In ihrem Kopf suchte sie nach irgendetwas, nach der kleinsten Erinnerung, nach Personen, Orten, nach Beweisen für ein früheres Leben, doch sie fand nichts.
"Warum kann ich mich an nichts erinnern?" fragte sie panisch und gestukilierte wild mit ihren Händen.
"Fragen für später." sagte Alby unsensibel und das war der Moment wo sie entschied, dass sie ihn nicht mochte.
"Ich-" fing sie an und versuchte ihre aufkommende Panik zu kontrollieren, doch er unterbrach sie.

"Schnell mussten wir feststellen, dass wir hier festsitzen. Die Eingänge, die du in den Wänden siehst-" er deutete auf die vier Mauern und sah dann zurück zu ihr.
"-sie schließen sich über Nacht. Und das ist auch besser so."

"Wieso?" entfuhr es ihr, während sie ihre Arme um ihren Oberkörper schlang um sich vor der Realität zu schützen, aber er sah sie einfach einmal strafend an und ignorierte sie ansonsten.

"Hinter ihnen ist ein riesiges Labyrinth und niemand hat bisher eine Nacht dort draußen überlebt."
Bevor sie ihn erneut unterbrechen konnte, fragen weshalb niemand lebend zurückkam, sprach er weiter.
"Weil es hier heraus keinen anderen Ausgang gibt, mussten wir uns anpassen.
Die Box, die dich herauf gebracht hat, bringt uns alles was wir für einen Monat zum Leben brauchen. Lebensmittel und all das Zeug."
Er machte eine kleine Pause um auf die Hängematten und mehrere Gruppen arbeitender Jungs zu deuten.
"Wie du-" er drehte sich zu ihr und blieb stehen, sodass sie fast ihn in hinein lief.
"-kommt jeden Monat ein weitere Frischling mit der Box zu uns. Am Anfang waren wir etwa zwanzig, etwas mehr, danach jeden Monat einer. Doch du bist das erste Mädchen."
Sie zuckte mit den Schultern und versuchte all die Informationen zu verarbeiten, ohne dabei ihren Kopf zu verlieren.

"Ich geh mich jetzt um meine Arbeit kümmern, seh dich einfach erst mal um, morgen klären wir alles weitere, die einzige Regel, die du heute beachten musst, ist: Gehe nicht von der Lichtung runter, du setzt keinen Fuß in das Labyrinth, verstanden?"

Sie nickte lediglich und versuchte all die Informationen brauchbar zu machen und zu verstehen was gerade abging. Innerhalb von einer Stunde hatte sich ihr Leben komplett verändert. Völlig irritiert drehte sie sich im Kreis und verstand nicht, wie Alby sie einfach alleine lassen konnte.

Doch er war fort.

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