1) Stimmen

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Stimmen.

Ich saß im völlig überfüllten Vorlesungssaal, als sie sich zu Wort meldeten.

Sie waren nicht viel mehr als ein Flüstern. Ein Wirrwarr aus zur Unerkennbarkeit gesplitterten Worten. Satzfetzen, an- und abschwellendes Gemurmel, vereinzelt eine Stimmfarbe, die unter den anderen hervorstach, nur sofort wieder unterzutauchen.

Seufzend schloss ich die Augen, erlaubte mir, für einen Moment abzuschweifen und den Kopf in die Hände zu stützen. Leider brachte die Schwärze meiner Augenlider keine Linderung, sondern sorgte vielmehr dafür, dass das Chaos in meinem Kopf noch weiter anschwoll.

Diese Stimmen hatten in meinem Geist nichts zu suchen. Meine Irritation darüber war zwar nach wie vor groß, die Angst vor einem Kontrollverlust durchgehend vorhanden, aber inzwischen überwog zu einem großen Teil die Frustration.

Die Frustration darüber, mich überhaupt damit herumschlagen zu müssen. Darüber, dass die Symptome nach der frühen Diagnose wohl nie wieder komplett verschwinden würden. Darüber, dass ich mich laut ärztlicher Aussage mit meinem aktuellen Zustand glücklich schätzen sollte, anstatt mich selbst zu bemitleiden. Darüber, mir seit Kindesbeinen an hochdosierte Psychopharmaka einwerfen zu müssen, aber trotzdem nicht vollständig leistungsfähig zu sein.

Nicht mehr.

Die Diagnose Schizophrenie hatte ich bereits als Kind erhalten, so früh, dass ich mich selbst gar nicht mehr daran erinnern konnte – weder an die Diagnose selbst noch an die konkreten Ausprägungen oder die Therapiesitzungen.

Und nachdem die medikamentöse Behandlung aufgenommen und im Laufe der Zeit immer wieder neu eingestellt worden war, hatte ich jahrelang keine Beschwerden mehr gehabt. Hätte ich nicht jeden Morgen mein Antipsychotikum wie andere Leute in meinem Alter irgendwelche Proteintabletten geschluckt, hätte ich mich lange Zeit vermutlich nicht einmal mehr daran erinnert, tatsächlich eine Diagnose bekommen zu haben.

Das Medikament O-Nesciol, das seit dem späten zwanzigsten Jahrhundert mehr oder weniger als Standard bei Schizophrenie zum Einsatz kam, tat seinen Dienst zuverlässig – noch dazu ohne groß erkennbare Nebenwirkungen, sofern man nicht gerade allergisch auf den Wirkstoff reagierte.

Jedenfalls, solange man nicht mehr als die eine Tablette pro Tag einnahm, wie es in der optimalen Empfehlung stand.

Nun gut.

Mein eigenes Pech also, dass ich immer öfter zu einer dritten Tablette greifen musste, um einen ruhigen Kopf zu haben, was?

Wie zur Bestätigung begann es hinter meinen Schläfen zu hämmern.

Blind tastete ich nach meinem Rucksack, der wie immer in der allerletzten Ecke unter dem winzigen Stufensaaltisch lag, seufzte erleichtert, als ich endlich den Riemen zu fassen bekam. Glücklicherweise hatte ich mir irgendwann angewöhnt, immer einen Notvorrat meiner Tabletten mit mir herumzuschleppen, sodass ich nun nicht völlig panisch aufspringen und überstürzt aus der Vorlesung stolpern musste.

So war es gewesen, als sich die Stimmen zum allerersten Mal trotz Medikamente wie aus dem Nichts zu Wort gemeldet hatten. Damals im ersten Semester. Zu dem Zeitpunkt war es noch ein Einzelfall gewesen, auf den hin mir mein Therapeut versichert hatte, die Medikation bei akuten Beschwerden nach eigenem Ermessen erhöhen zu dürfen, maximal aber bis zu drei Tabletten am Tag.

Bei diesem einzelnen Fall war es leider nicht geblieben. Die Abstände zwischen den Ausbrüchen des Symptoms waren kürzer geworden, das Wispern lauter und eindringlicher, die Kopfschmerzen schlimmer – bis ich mich dazu gezwungen sah, jeden zweiten bis dritten Tag auf die Höchstdosierung des Antipsychotikums zurückzugreifen.

Oblivious (Ziall)Where stories live. Discover now