62) Ultimatum

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„... ihm eine solche Kurzschlussreaktion zuzutrauen?"

Suzanna Cobb, Kopf der OOA-Security und eine von Quinns engsten Vertrauenspersonen, musterte uns der Reihe nach. Sie war eine etwas untersetzte, jedoch keineswegs zierliche Frau mittleren Alters, mit sicherem Schritt und verkniffenem Gesichtsausdruck.

Ihr dunkelbraunes Haar trug sie in einem festen Knoten auf dem Kopf, der sich einwandfrei zu ihrem perfekt sitzenden Anzug mit Jackett und Lackschuhen ergänzte. Man hätte sie für eine klassische Geschäftsfrau halten können, wären da nicht das unscheinbare Kabel eines Headsets an ihrem Nacken sowie die Dienstwaffe an ihrer Hüfte.

Cobb musterte uns so intensiv, dass ich eingeschüchtert den Kopf einziehen musste, als ihre dunklen Augen über mich hinwegglitten. Wir hatten uns im Keller in Quinns Labor versammelt - Zayn und ich zufälligerweise genau an dem Tisch, an dem wir letzte Nacht unseren ersten Kuss geteilt hatten.

Es fühlte sich seltsam, nun wieder hier zu sitzen, diesmal aber in Gesellschaft mehrerer Leute. Quinn, Anne, Maura. Zayn, ich. Ein Typ, den ich nicht kannte, und natürlich die geschniegelte Suzanna Cobb.

Annes Blick hatte sich bei ihrer Ankunft sofort auf uns festgezurrt, gefolgt von einem kleinen, wissenden Lächeln und einem wohlwollenden Nicken - bevor Quinn die Hiobsbotschaft über Harrys Verschwinden auf den Tisch geklatscht hatte.

„Ich wünschte, ich könnte das Gegenteil behaupten, aber leider ja", meldete sich irgendwann Anne zu Wort, als niemand reagierte. „Harry ist ein sehr emotionaler, impulsiver Mensch. Wenn ihn etwas stark mitnimmt, handelt er oft, ohne darüber nachzudenken."

Cobb nickte knapp. „Kennt er sich hier im Ort aus?"

„Hier auskennen?" Anne wirkte, als hätte sie gerne gelacht, doch nun schienen ihr die eigenen Emotionen die Kehle zuzuschnüren. „Nein. Er kennt vermutlich nicht einmal den Namen der Stadt."

Die Frau verzog das Gesicht. „Es gibt demnach also keinerlei Anhaltspunkte, wohin er gehen könnte, um sich abzureagieren."

Am liebsten wäre ich vor Schuldbewusstsein, Scham und Sorge im Erdboden versunken.

Abzureagieren.

Genau das hatte Harry vermutlich tun müssen, als er vergangene Nacht über Zayn und mich gestolpert war und gleich eine Live-Präsentation der neuesten Entwicklung erhalten hatte. Leider konnte ich mir nur allzu gut vorstellen, wie er die Infusionsnadel aus seinem Arm riss, den Tropf in die nächste Ecke warf und sich aus dem nächstbesten Ausgang drückte. Dass exakt in dieser Minute der zuständige Wachposten anderweitig beschäftigt gewesen war, war ein halsbrecherischer Zufall, aber die Überwachungskameras bestätigen diesen einwandfrei.

Diese Aufzeichnungen waren die letzte Spur von Harry. Er war nicht zurückgekehrt.

„Heißt also, er ist allein irgendwo in der Stadt unterwegs, ohne zu ahnen, dass er im Augenblick die wertvollste Person auf dem gesamten Erdball ist", fügte Quinn finster hinzu. „Wir können ihn nicht verlieren."

Cobb entgegnete vorerst nichts, viel zu sehr damit beschäftigt, auf etwas in ihrem Headset zu lauschen. Diese Pause nutzte Anne, um sich einzuschalten.

„Die wertvollste Person auf dem Erdball?" Ihr Tonfall war rasiermesserscharf. „Bei allem Respekt, Dr. Quinn, aber Harry ist in allererster Linie immer noch Harry, scheißegal, was ihr in seinem Blut gefunden habt."

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Maura, die neben ihr in ihrem Rollstuhl saß, beruhigend nach ihrem Arm griff. Sie wirkte zwar selbst erschöpft und noch dazu seltsam zerstreut, aber das schien sie nicht davon abzuhalten, an dieser Krisensitzung teilzunehmen.

Oblivious (Ziall)Where stories live. Discover now