57) Wissen

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Wusste ich inzwischen alles? Zweifelhaft.

Ich war ein klassischer Oblivious gewesen, dann ein Teil der Cognizant, und jetzt, am Ende dieses chaotischen Erfahrungswegs, müsste doch irgendwann ein Zustand der Allwissenheit eintreten. Omniscient, wie meine Mutter und Quinn diese Wissensansammlung betitelten – mit einem verschlagenen, amüsierten Grinsen, weil sie damit auf Kens blöden Cognizant-Grundsatz reagierten.

Meine Mutter.

Es fühlte sich nach wie vor merkwürdig an, die Worte in den Mund zu nehmen, vor allem in Bezug auf Maura Gallagher. Natürlich wusste ich schon mein ganzes Leben lang, dass die Mutter, die mich großgezogen hatte, nicht meine leibliche war, dass ich Letztere wohl nie kennenlernen würde. Damit hatte ich mich längst abgefunden.

Und jetzt war sie plötzlich da. Sie war greifbar, ich konnte mit ihr sprechen.

Was sie wohl von mir erwartete? Erwartete sie überhaupt etwas von mir? Wenn ja, hatte sie es sich gestern nicht anmerken lassen.

Nachdenklich zwirbelte ich den Stoff des Kissenbezugs zwischen meinen Fingern umher. Das Bett war bequem und duftete frischgewaschen nach irgendeinem blumigen Weichspüler, doch ich kam trotzdem nicht umhin, mich nach meinem eigenen Bett in meiner eigenen Wohnung zu sehnen.

Ich hatte nicht den blassesten Dunst, wie viel Zeit seit dem Überfall unter der Autobahnbrücke vergangen war. Meinem Gefühl nach dürften es ganze Monate gewesen sein, doch der rationale Teil meines Gehirns ahnte, dass es sich garantiert nur um wenige Wochen handelte. Drei. Vielleicht auch vier.

Ich wusste es nicht. Damit hatte ich ja auch schon meine Antwort auf die Frage vorhin, was? Mein Wissensstand war alles andere als omniscient, und wenn ich mittlerweile etwas begriffen hatte, dann, dass Wissen Macht war.

Wollte ich Macht? Nein. Aber das Wissen wollte ich definitiv. Kam die Macht dann automatisch mit?

Meine Güte. Welch verkorkster Bullshit.

Seufzend drehte ich mich auf die Seite, ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Maura, die einen Teil des obersten Stockwerks als Wohnraum nutzte, hatte Anne und mir dort separate Gästezimmer angeboten. Zwar gab es im offiziellen Teil des Gebäudes auch noch Fremdenzimmer, für den Fall, dass Geschäftsleute und Politiker übernachten mussten, aber ganz offensichtlich wollte sie uns so nahe wie möglich bei sich haben.

Ich war froh darüber. Bisher hatte ich noch nicht allzu viele der OOA-Leute hier zu Gesicht bekommen und war auch nicht sonderlich erpicht darauf, das nachzuholen. Ich erinnerte mich daran, was Zayn und Quinn über die OOA erzählt hatten. Dass es zwar einen Teil gab, der den Oblivious freundlich gesinnt war und Frieden schaffen wollte. Dass andererseits aber ebenso ein Teil existierte, der die Mutation als Gefahr wahrnahm.

Und wenn man bedachte, welche Ziele Ken mit den Cognizant verfolgte, entsprach diese Wahrnehmung in gewisser Hinsicht leider sogar der Realität.

Eine traurige Erkenntnis, aber die Situation war viel zu verworren, um wirklich nachverfolgen zu können, wer nun woran wieviel Schuld trug oder wer diesen wahnwitzigen Kampf begonnen hatte.

Im Prinzip war das aber auch egal. Im Hier und Jetzt zählte, dass es auf beiden Seiten – sowohl bei Mutanten als auch bei Nicht-Mutanten – Bereitschaft gab, die Vergangenheit auszubügeln, in Frieden zusammenzuleben und einander zu unterstützen, statt sich zu bekämpfen. Also genau die Bereitschaft, die die Welt brauchte.

Leises Klopfen an der Tür setzte meinen Gedanken ein Ende, und hastig setzte ich mich auf. „Ja?"

Mein Herz hämmerte in meiner Brust, während ich eilig über mein zerknittertes T-Shirt strich, in der Hoffnung, es ein wenig zu glätten. Vielleicht war es ja Zayn? Den hatte ich seit dem Gespräch mit Maura nicht mehr zu Gesicht bekommen, und da Quinn mir eine kleine Führung durch das Gebäude gegeben hatte, bei der wir ihn früher oder später eigentlich aufgreifen hätten müssen, ging ich davon aus, dass er mich aktiv mied.

Oblivious (Ziall)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt