21) Klamottenmission

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Wir waren auf Klamottenmission.

Zumindest lautete so der Titel, den Harry unserer Unternehmung verpasst hatte, auch wenn ich zugeben musste, dass sie durchaus treffend war. Immerhin waren wir tatsächlich einzig und allein deshalb losgezogen, um unter anderem meine Klamotten einzusacken.

Natürlich standen auch noch andere Dinge auf meiner Liste – zum Beispiel meine Papiere, mein Laptop plus Ladekabel und einige Schachteln aus meinem Gewürzteevorrat – aber allem voran war es Kleidung, die ich mehr brauchte als alles andere.

Harry schien es zwar nichts auszumachen, seine Sachen an mich abzutreten, aber langsam sehnte ich mich danach, wenigstens ein winziges Stück meiner persönlichen Normalität zurückzubekommen. Und wenn es nur ein paar blöde Shirts waren.

Harry hatte zwar geschmollt, am Ende aber zugestimmt. Allgemein war es faszinierend, wie heftig er sich weigerte, von meiner Seite zu weichen. Als ich heute Morgen aufgewacht war, hatte Harry schon im wachen Zustand neben mir gelegen, den Kopf auf die Hand gestützt, und mich beobachtet, mit solch nachdenklichem Gesicht, dass ich ihn beinahe ausgelacht hätte.

Anne hatte nicht im Geringsten überrascht gewirkt, als sie neben Harry auch noch mich in ihrer Küche entdeckte. Sie zog lediglich die Augenbrauen hoch und erinnerte ihren Sohn daran, dass er morgen wieder zur Arbeit musste und doch bitte seinen Alkoholkonsum einschränken sollte. Mir ließ sie ein lächelndes „Schön, dich hier zu sehen" da, ehe sie sich auf den Weg machte, vermutlich rüber ins St. Hedwig.

Und ich fragte mich immer wieder, wann es mich endlich überfahren würde. Die Erkenntnis, dass meine Welt gerade aus den Fugen geriet, während ich zu beschäftigt war, um es wirklich zu begreifen.

Harry war einer der Gründe dieses Beschäftigtseins. Er ließ alles so normal erscheinen. So ruhig. Als gäbe es keinen Grund zur Aufregung oder gar zur Furcht. Als wäre alles so, wie es sich gehörte.

Und ich selbst hatte definitiv auch einen an der Waffel. Natürlich steckte mir die Erinnerung an den Überfall noch in den Knochen, jagte mich aber nicht so sehr, wie ich es befürchtet hatte. Sollte man nach so einer Erfahrung nicht eigentlich traumatisiert sein? Albträume haben? Rückblenden? Panikattacken?

Ich meine, jemand hatte versucht, mich zu töten.

Zu töten.

Wie gelang es mir nur, das einfach so wegzustecken? Und mir stattdessen Sorgen darüber zu machen, mit Harrys Freunden nicht klarzukommen?

Ich verstand mich selbst nicht mehr.

Zurück zur Klamottenmission.

Harry hatte den unauffälligen Dienstwagen des St. Hedwig – einen der inoffiziellen Abteilung, um genau zu sein – zwei Straßen weiter geparkt, sodass meine Studentenbude innerhalb einer Reichweite von wenigen Minuten schnellen Fußmarschs lag.

Sein Plan war es, den Wagen erst dann in unmittelbare Nähe vorzufahren, sobald wir Nachricht gegeben hatten, dass wir uns im Inneren des Hauses befanden.

Ob das wohl etwas nutzte? Ich hegte diesbezüglich Zweifel, vertraute im Endeffekt aber einfach darauf, dass die anderen wussten, was sie taten.

Nun gut, besser als ich selbst taten sie das definitiv.

Ich wollte ursprünglich einfach bei Tageslicht aufmarschieren, eine Tasche packen und dann kurzerhand wieder verschwinden. Leider hatte ich mir mit diesem Vorschlag lediglich eine Kopfnuss von Louis und fassungslose Blicke von Gemma und Harry eingehandelt – zu Recht. Meine Neigung zur Naivität hatte sich absolut nicht gebessert.

„Niall, genau das ist es, worauf sie warten", versuchte Gemma mir behutsam zu erklären, während Louis mir ohne ein weiteres Wort kurzerhand eine zweite Kopfnuss gab. „Und mal abgesehen davon, dass niemand will, dass du draufgehst, hat auch niemand hier Interesse daran, diese Psychos auf die Fährte des St. Hedwig zu bringen. Sollte die OOA jemals erfahren, was sich hinter der Fassade des stinknormalen Klinikums verbirgt, werden sie es bis auf die Grundmauern filzen und uns einen wichtigen Stütz- und Zufluchtspunkt nehmen."

Oblivious (Ziall)Where stories live. Discover now