10) Rationalität

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„Niall", begann Louis, während er endlich diese blöde Tomate zurück in seinen Teller fallen ließ. Das Ding hatte mich fast so sehr irritiert wie Louis selbst. „Was zum-..."

Er verstummte, um mich stattdessen wieder eindringlich zu mustern. Vermutlich hatte er meinem Gesichtsausdruck entnommen, dass er eine ordentliche Konversation mit mir im Moment vollkommen ausschließen konnte.

Alles in mir war taub.

Schwerfällig ließ ich mich zurücksacken, und doch spürte ich kaum, wie die Stuhllehne mit meinem Rücken in Kontakt trat. Mein Puls raste, meine Handflächen waren unangenehm feucht vor Schweiß.

Da war Louis.

Ja, natürlich war er das. Er saß vor mir.

Aber er war auch hier. In meinem Kopf.

Nein, Moment. Nicht ganz.

Ich sog einen scharfen Atemzug ein, meinen besten Freund weiterhin fixierend, als könnte er mir eine Lösung liefern. Doch das würde er garantiert nicht tun. Zumindest nicht freiwillig.

Denn ...

Louis war nicht in meinem Kopf, ich war in seinem Kopf.

Eine Schockwelle schwappte über mich hinweg, als Louis sich ruckartig aufsetzte und endgültig sein Besteck hinknallte.

„Hey! Musst du kotzen?" Seine Berührung an meinem nackten Arm ließ mich zusammenzucken – sie war viel zu real, viel zu direkt. Nach all den mentalen Eindrücken überforderte sie mich regelrecht. „Dein Gesicht ist weiß. Also, so richtig weiß, wenn du verstehst, was ich meine."

Als ich nicht sofort antwortete, stieß er einen leisen Fluch aus.

„Es geht wieder los, oder? Es wird nicht besser. Warte kurz." Ehe ich reagieren konnte, hatte er sich schon meinen Rucksack geschnappt, der zwischen uns unter dem Tisch stand. „Ich such dir deine Tabletten raus."

Halt.

Wie vom Blitz getroffen fuhr ich hoch, als mich Panik bis in die Fingerspitzen flutete.

Wenn Louis herausfand, dass ich meine Medikamente nicht nahm, würde er mich mit seiner Essgabel köpfen und anschließend mit den Tomaten in seinem Salat steinigen.

„Louis, stopp!" Hektisch versuchte ich noch, ihm den Rucksack zu entreißen, indem ich mich mehr oder weniger mit vollem Körpereinsatz über den Tisch warf. „Du musst nicht-..."

Zu spät.

Louis hatte das oberste, kleinste Fach meines Rucksacks bereits geöffnet und seine Nase hineingesteckt, auf der Suche nach dem vertrauten Blister, den er mir schon unzählige Male herausgesucht und gereicht hatte. Er wusste genau: Wenn sich das Ding nicht in diesem Fach befand, war es nirgends.

Und jetzt wusste er es natürlich auch.

Ein Blick in das leere Fach in Kombination mit meinem entsetzten Gesicht reichte aus, um ihn eins und eins zusammenzählen zu lassen.

Seine Augen weiteten sich, ehe er den Rucksack langsam zu Boden sinken ließ, die Finger fest im Stoff des Obermaterials vergraben.

„Niall." Er klang in erster Linie fassungslos, doch da war noch etwas anderes, das mir auf indirektem Wege entgegenschwappte. Erstaunen. Erkenntnis. Er hatte etwas realisiert. Etwas? „Niall, wo sind deine Tabletten?"

Ich schwieg. Was sollte ich auch sagen? Er wusste doch ohnehin schon, was Sache war.

„Okay." Louis' Zähneknirschen ließ mir die Haare im Nacken zu Berge stehen. „Du nimmst sie nicht. Nicht mehr."

Oblivious (Ziall)Where stories live. Discover now