56) (Un-)Wirklichkeit

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Das Glas Wasser wog schwer in meiner Hand, als ich es langsam kreisen ließ. Keinen Schluck davon brachte ich hinunter, obwohl es für meine Denkfähigkeit sicherlich sinnvoll gewesen wäre.

Zu meiner Rechten saß Zayn. Ein sehr schweigsamer, sehr angespannter Zayn. Vermutlich wollte er mir nach wie vor am liebsten eine Ohrfeige versetzen und sich dann direkt zurückziehen, um eine Pause von mir zu bekommen, doch er schien es nicht über sich zu bringen.

Stattdessen saß er nun so dicht neben mir, wie es gesellschaftlich noch als normal einzustufen sein dürfte, ohne verdächtig zu wirken. Verdächtig im Sinne davon, aktiv nach Nähe zu suchen und sich diese einfach zu holen. Was er gewissermaßen tat, wenn man bedachte, dass er sein Bein so nahe an meines herangerückt hielt, dass sich unsere Oberschenkel berührten.

Selbstverständlich machte mir das nichts aus.

Der Kontakt zu ihm erdete mich, beruhigte mich, und ich ertappte mich dabei, wie ich verstohlen noch näher an ihn heranrutschte, bis auch unsere Knie aneinanderstießen.

„... keine Fragen mehr?"

Verstört schrak ich hoch. „Hm?"

Quinn tauschte einen Blick mit Maura Gallagher und räusperte sich. „Ich wollte wissen, ob du noch Fragen hast. Du hast eine ordentliche Informationsflut hinter dir."

Informationsflut?

Fast hätte ich gelacht.

Vielmehr eine Sintflut, die sämtliche meiner Gehirnzellen fortgespült hatte. Auf Nimmerwiedersehen.

Trotzdem verneinte ich. „Nicht wirklich. Ich muss das alles nur erst verdauen."

„Natürlich." Verständnisvoll nickte Quinn mir zu. „Alles andere würde mich wundern." Sein forschender Blick wanderte eine Person weiter. „Zayn, wir sollten die Untersuchung der letzten Proben noch abschließen."

Kurz begriff ich nicht, worauf er hinauswollte, doch als er sich prompt erhob und Zayn bedeutete, ihm zu folgen, wurde mir augenblicklich schlecht.

„Moment." Instinktiv vergrub ich die Finger in Zayns Ärmel, senkte meine Stimme auf ein nur für ihn hörbares Level. „Zayn, ihr könnt doch jetzt nicht einfach..."

„Doch." Sanft löste er meine Hand von seinem Arm und stand ebenfalls auf. „Ihr solltet reden. Allein." Der Anflug eines ehrlichen, wenn auch recht bitteren Lächelns zupfte an seinen Lippen, als er mein ängstliches Gesicht begutachtete. „Maura beißt nicht, keine Sorge."

Die Überzeugung in seinem Tonfall ließ mich ohne jeden Zweifel erahnen, dass Zayn Maura Gallagher um Welten besser kannte als ich selbst.

Und ich war ihr Sohn.

Fuck.

Ein noch nie dagewesener Fluchtinstinkt brannte unter meiner Haut, doch ich zwang mich dazu, stillzusitzen und stumm zuzusehen, wie Quinn und Zayn das Arbeitszimmer verließen.

Und dann saßen wir allein am Schreibtisch.

Maura Gallagher mit gefalteten, ruhigen Händen und aufmerksamem Blick in ihrem Rollstuhl, ich selbst als zappeliges Nervenbündel auf einem Rollhocker. Letzteren hatte Quinn unter dem Waschbecken in der Ecke hervorgezogen, als die gewöhnlichen Stühle knapp geworden waren.

Verstohlen spähte ich zu der Gründerin der Rebellen hinüber, wandte den Blick jedoch hektisch wieder ab, als er auf ihren traf.

Ich schluckte schwer. Sollte man in einer solchen Situation, bei der Wiedervereinigung mit einem lang verlorenen Elternteil nicht irgendetwas fühlen? Zum Beispiel eine tiefe Verbundenheit? Eine plötzliche, emotionale Nähe? Ein Gefühl der Vertrautheit, wie es bei Harry der Fall gewesen war?

Oblivious (Ziall)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt