66) Abrechnung

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Nebeneinander traten wir aus dem Schatten der Sträucher hervor, woraufhin das Knirschen der Schottersteine unter unseren Schuhen unnatürlich laut über das Areal hallte.

Aus den Augenwinkeln registrierte ich, dass Annes Hand durchgehend auf der Wölbung seitlich an ihrer Jacke verharrte. Sie war bereit dafür, ihre Waffe zu ziehen, sollte es nötig werden.

Und ich? Nun gut, ich redete mir ein, dass ich so ziemlich jeden beliebigen Gegenstand hier als Waffe einsetzen konnte, wenn ich musste. Der Haufen aus faustgroßen Steinen dort drüben zum Beispiel, daneben der mit Porzellanscherben, dann noch der rostige Container, dessen Inhalt sich bei näherem Hinsehen als Sperrmüll entpuppte. Ein einziges Flugobjekt würde ausreichen. Es flog durch die Luft, lautlos und unbemerkt, traf jemanden am Kopf, knockte die Person aus, während ich selbst mich nicht einmal von der Stelle rühren musste.

Viel Gelegenheit zum Trainieren hatte ich in den letzten zwei Tagen zwar nicht bekommen, aber ich vertraute darauf, dass Telekinese zu den Sachen gehörte, die man einfach konnte, wenn man sie mal konnte. Also genau das, was Tilda mir auch schon eingebläut hatte, vor scheinbar so langer Zeit.

Tilda war heute nicht von der Partie. Die Trainerin gehörte zu denjenigen, die außerhalb des Klinikums und auch nicht in dessen direktem Umfeld wohnten, daher hatten wir sie nicht einfach aus dem Bett klopfen und zur Mission hinzuholen können. Anne hatte zwar versucht, sie telefonisch zu erreichen, aber natürlich hob sie nicht ab. Warum auch? Es war mitten in der Nacht, sicherlich lag sie schlafend im Bett.

Das Gespräch, was Elton John und die SD-Karte betraf, stand demnach noch aus, aber das konnte ich später nachholen. Sofern es denn ein Später gab.

Das Rumoren in meinem Magen verstärkte sich, je weiter wir in die Mitte des Areals vorrückten. Ganz vorne an der Einfahrt spendeten einige Straßenlampen erstaunlich helles Licht, doch nicht hell genug, um bis in den letzten Winkel des Hofs vorzudringen. Schummrige Dämmerung hing in der Luft, verlieh der Szenerie zusätzlich einen gespenstischen, bedrohlichen Touch.

Verbissen verschränkte ich die Arme vor der Brust, einerseits wegen der Kälte, die sich rasend schnell durch meine Jacke fraß, andererseits, um meine Hände vom Zittern abzuhalten. Das Gefühl von Harry, mittlerweile auf ein schwaches Pochen herabgedimmt, saß mir hartnäckig und durchgehend präsent im Hinterkopf, und ich musste mich mächtig zusammennehmen, um seine Angst nicht an mich heranzulassen. Natürlich hätte ich einfach meinen Schutzschild gegen alle äußeren Eindrücke hochfahren und auch Harry ausschließen können, aber das brachte ich nicht über mich.

Ich wollte ihn nicht ausschließen.

Solange ich ihn spürte, war alles gut. Solange ich ihn spürte, wusste ich, dass er am Leben und bei Bewusstsein war.

„Niall." Anne, die so dicht neben mir lief, dass sich unsere Schultern berührten, griff wieder nach meinem Arm, diesmal jedoch, um mich zurückzuhalten. „Hinter dem Container. Ist das ein Auto?"

Ich kam gar nicht dazu, mich mit gerunzelter Stirn vorzubeugen und ihre Vermutung zu überprüfen. Anne hatte ihre Frage kaum ausformuliert, da flammten die Scheinwerfer besagten Autos auf – grässliches, blaues Xenonlicht flutete den Schotterhof, zwang uns dazu, geblendet die Arme hochzureißen.

Anne neben mir murmelte einen Fluch, während sie mich unsanft zur Seite zerrte. Um ein Haar hätte ich hysterisch gelacht. Was erwartete sie denn? Dass aus dem Container nun ein paar Cognizant hervorgekrochen kamen, die mich kurzerhand schnappten und in diesen hässlich-protzigen BMW mit seinen blöden Xenonscheinwerfern stopften? Unwahrscheinlich.

Trotzdem schluckte ich und rückte unwillkürlich noch näher an Anne heran. Ein Teil von mir schämte sich, so offensichtlich Schutz bei ihr zu suchen, doch ich konnte nicht anders. Ich war kein ausgebildeter Kämpfer wie Liam oder Zayn. Ich hatte kein jahrelanges, mentales Training wie Gemma oder Louis, um meine Fähigkeiten kontrolliert und sicher einsetzen zu können. Ich war die letzte Person hier, von der man waghalsige, tapfere Heldentaten erwarten konnte. Ich war nur ein hilfloser Student, hineingeraten in eine Sache, die ihm nun meilenweit über den Kopf hinauswuchs.

Oblivious (Ziall)Where stories live. Discover now