19) Vertraute Fremde

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Das kleine Einfamilienhaus, dessen Haustreppe wir nun erklommen, glich sich äußerlich exakt mit der inneren Gestaltung: Unscheinbar und wohnlich.

Nicht übertrieben modern, aber auch nicht altmodisch oder sonderlich traditionell. Eine etwas überfüllte Garderobe und ein abgetretener, bunter Teppich begrüßten uns im Eingangsbereich, gefolgt von einer hölzernen Treppe nach oben. Die Tür zu einem heimeligen Wohnzimmer stand halb offen, gewährte freie Sicht auf durchgesessene Sofas und einen Kamin mit unzähligen Fotos auf dem Sims. Zu guter Letzt folgten noch ein winziges Bad sowie Kombination aus Esszimmer und Küche – die Schlafzimmer schienen sich im ersten Stock zu befinden.

Es war gemütlich. Es vermittelte ein Gefühl vom Daheimsein – also genau das, was man sich von seinem Zuhause wünschte, richtig?

„Gemma?" Harry trat sich erst direkt vor der Esszimmertür seine schwarz glänzenden Stiefel von den Füßen, also tat ich es ihm mit meinen Sneakers gleich. Offenbar war es bei ihnen nicht normal, die Schuhe gleich am Eingang auszuziehen. „Gems, bist du zu Hause?"

Keine Antwort erfolgte, doch Harry zuckte nur die Achseln.

„Wahrscheinlich ist sie noch mit Freunden unterwegs." Er bedeutete mir, ihm in die Küche zu folgen. „Sie hat heute ihren freien Tag."

Überrascht sah ich ihn an, während ich mühsam versuchte, nicht alles neugierig zu begaffen. „Ihr freier Tag? Und dann war sie trotzdem im Klinikum?"

Harry schien kurz irritiert zu sein, überspielte es jedoch mit einem Lachen. „Sie wollte sich nur davon überzeugen, dass du nicht ins Gras beißt."

„Ach." Ich zog die Augenbrauen hoch. „Erstaunlich, wie besorgt hier jeder um mich ist, obwohl mich niemand wirklich kennt."

„Tja, wir sind eben Gutmenschen." Harry fletschte die Zähne, was wohl wie ein Lächeln wirken sollte. „Okay, was wollen wir kochen?"

Ein wenig überfordert sah ich mich um.

Das hier war unwirklich. Es war so furchtbar unwirklich.

Gestern Abend hatte ich noch ums nackte Überleben gekämpft. Heute teilte man mir mit, dass ich zu menschlichen Mutanten zählte, deren Existenz verleugnet und gewaltsam kontrolliert wurde, und vorhin noch hatte mir Harry die Bombe mit dem mentalen Training geliefert, auf das ich doch gar keine Lust hatte.

Es war so unfassbar viel und so krass, und vermutlich würde ich nie wieder wie ein gewöhnlicher Durchschnittszivilist leben können. Sofern ich denn jemals als einer gezählt hatte.

Und jetzt stand ich hier mit ebendiesem Harry in der Küche seines Familienhauses und sollte mir Gedanken darüber machen, was wir zum Abendessen kochen könnten? Als wäre all das Drama nicht passiert? Als wäre das hier nur ein stinknormaler Tag mit einem Kumpel?

Es wollte nicht in meinen Kopf.

Klappern riss mich aus meinen Gedanken, und als ich es schaffte, den Blick von den Bodenfliesen loszueisen, sah ich gerade noch, wie Harry etwas im obersten Fach des Küchenregals verschwinden ließ. Etwas Quadratisches aus dunklem Holz, das große Ähnlichkeit mit einem Bilderrahmen aufwies.

Harry bemerkte meinen fragenden Blick und hob entschuldigend die Hände. „Sorry. Das ... stand da falsch."

Ohne meine Reaktion abzuwarten, riss er den Kühlschrank auf. „Ich sehe gerade, Gemma hat gestern anscheinend Pizzateig mitgebracht. Und Zucchini. Wie wär's mit Pizza? Gemüsepizza?"

Seine Augen glänzten aufgeregt, als er seinen Kopf hinter der Kühlschranktür hervorstreckte. Gerade so, als wäre diese gemeinsame Kochsession das Beste, was ihm für den heutigen Abend passieren hätte können – und es rührte mich.

Oblivious (Ziall)Where stories live. Discover now