54) Omniscient

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Wie immer besaß ich nicht den blassesten Schimmer, wo ich war, doch zur Abwechslung war mir das völlig egal. Zur Abwechslung strebte ich nicht danach, so viel wie möglich, wenn nicht sogar alles zu wissen.

Im Augenblick reichte mir einzig und allein die Kenntnis, dass ich hier an Harrys Bett sitzen und ihn einfach nur ansehen konnte.

Mehrmals kamen Leute vorbei. Manchmal in medizinischer Kleidung, manchmal bewaffnet und in Kampfausrüstung, manchmal in gewöhnlichen Zivilklamotten. Stimmen redeten auf mich ein, zwangen mich dazu, meine durchnässte Kleidung zu wechseln, ein Glas Wasser anzunehmen und zumindest einen Proteinriegel zu essen.

Ich ließ es zu, dass man die Platzwunde an meiner Stirn säuberte und klammerte, mir eine Schmerztablette aufschwatzte und schließlich noch eine beachtliche Menge Blut entnahm.

Was sie wohl mit Letzterem vorhatten?

Keine Ahnung. Sicherlich brauchten sie es für irgendeine Untersuchung, vielleicht sogar zur Entwicklung eines neuen Wirkstoffs – oder für die Enzymforschung.

In Anbetracht der Tatsache, dass Dr. Bernard Quinn hier seine Finger im Spiel hatte, traf die Theorie mit der Enzymforschung den Nagel wohl noch am ehesten auf den Kopf. Eine frische Blutprobe von mir war wahrscheinlich das Beste, was den Leuten hier passieren konnte.

Seufzend ließ ich die Stirn auf Harrys Matratze sinken, schloss die Augen.

Bis eben hatte mir Anne noch Gesellschaft geleistet, bevor sie zu einer Befragung vorgeladen worden war. Eine Befragung, die wichtiger zu sein schien als ursprünglich angenommen, denn ansonsten wäre sie längst zurückgekehrt – schließlich war es Harry, der hier kreidebleich und bewusstlos herumlag und per Tropf irgendwelche Elektrolytlösungen und anderen Kram injiziert bekam.

Kurz nach der Fahrt hierher hatte er sich ein paar Mal übergeben, kombiniert mit üblem Schüttelfrost, Schweißausbrüchen und Herzrasen, und es war fürchterlich gewesen. Ich fühlte mich so hilflos.

Glücklicherweise wussten Quinn und Anne im Gegensatz zu mir exakt, was zu tun war. Sie hatten Louis und mich brüsk beiseitegeschoben und dafür gesorgt, dass wir ihnen und den anderen Fachkräften nicht in die Quere kamen.

Und nun saß ich hier wie in einem klischeehaften Drama völlig zerschlagen an Harrys Bett und wartete darauf, dass er endlich aufwachte. Seit einer halben Ewigkeit müsste ich schon zur Toilette, doch ich riss mich zusammen. Auf keinen Fall wollte ich, dass Harry ausgerechnet während meiner Abwesenheit das Bewusstsein wiedererlangte – allein und verloren in der grausigen Realität, ohne vertrauten Anhaltspunkt. Ich wusste, wie furchteinflößend dieses Gefühl war.

Das leise Klicken der Tür ließ mich aufsehen – und schlagartig saß ich kerzengerade auf meinem Rollhocker, plötzlich hellwach.

Gekleidet in seinen üblichen Arztkittel und mit Kugelschreiber und Notizblock bewaffnet, betrat Bernard Quinn den Raum, verschloss sorgfältig die Tür hinter sich.

Lediglich die schmutzigen Schuhe wiesen darauf hin, dass er in den vergangenen Stunden noch etwas anderes getan hatte, als ärztlichen Dienst zu schieben. Zum Beispiel ins Lager der Rebellen vorzudringen, eine Schießerei zu überleben und mehrere Leute zu befreien.

Er wandte sich mir zu, bemerkte sofort, dass ich ihn anstarrte, und ein wohlwollendes Lächeln begann seine Lippen zu umspielen. Exakt jenes Lächeln, das ich schon von klein auf kannte. Es hatte sich über die letzten zwanzig Jahre kaum verändert.

„Niall. Hallo." Langsam trat er näher, die Hände vorm Körper gefaltet. „Tut mir leid für die verspätete, angemessene Begrüßung. Die Dinge gehen drunter und drüber, wie du sicherlich festgestellt hast. Es ist schön, dich mal wieder ordentlich zu Gesicht zu bekommen."

Oblivious (Ziall)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt