67) Familie

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Die Zeit schien zum Stillstand zu kommen, zumindest für Ken Gallagher.

Ich beobachtete, wie seine Kinnlade aufklappte, wie seine Finger ihren Griff um Harrys Arm lockerten, bis sie gänzlich davon abließen. Wie sich seine Augen weiteten und das Blau ihrer Iriden sogar in diesen schlechten Lichtverhältnissen nahezu elektrisierend klar wirkte. Seine andere Hand zuckte empor, setzte zu einer Geste an, fiel dann jedoch unverrichteter Dinge wieder an seine Seite zurück.

Meine Kehle war staubtrocken und ich musste mehrere Male schlucken, um einen Hustenanfall zu verhindern. Ein solcher hätte die Lage vermutlich zur Explosion gebracht.

Langsam ließ ich meinen Blick von Kens erstarrter Silhouette zu Maura hinüberwandern.

Meine Mutter saß aufrecht in ihrem Rollstuhl, das Kinn nun auf die gefalteten Hände gestützt. Die Lippen hielt sie nach wie vor zu diesem dünnen Lächeln verzogen, das einerseits Bände sprach, andererseits völlig nichtssagend war. Sie verströmte derartige Arglosigkeit, wie ich es in ihrer Position niemals fertiggebracht hätte.

„Na?" Nun schlug sie auch noch einen amüsierten Unterton an, als wünschte sie ich rundheraus, dass Ken seine Waffe auf sie richtete. „Hat es dir die Sprache verschlagen, Kenny? Wir hatten uns doch sonst immer so viel zu sagen."

Endlich schien er aus seiner Schockstarre zu erwachen. Er trat einen Schritt vorwärts, ließ Harry dabei aus den Augen.

„Maura?" Seine Stimme war leise, doch das Beben darin verriet seine Fassungslosigkeit. „Was zum..."

„Maura Gallagher?", schnitt Reuben ihm mit seiner tiefen, lauten Stimme das Wort ab, und ehe Ken auch nur den Kopf drehen konnte, hatte sich sein Untergebener schon an ihm vorbeigedrängt. „Was? Was?!" Eine Mixtur aus Entsetzen und Ehrfurcht zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, ehe er zu Ken herumwirbelte. „Wie ist das möglich?"

Kens Kiefer bebte gefährlich. Immer wieder zuckte seine Hand in Richtung seines Gürtels, an dem sicherlich eine Pistole hing, doch er riss sich zusammen. Noch.

„Das ist nicht Maura Gallagher", gab er schließlich leise zurück. „Nur ein Trick."

Falls er gedacht hatte, er könnte Reuben damit täuschen, hatte er sich ordentlich geschnitten.

Reuben lachte laut auf, so ungläubig, als hätte er mit eigenen Augen soeben eine Wiederauferstehung beobachtet. Was er, in seiner Auffassung, vermutlich auch hatte.

„Ein Trick? Bei allem Respekt, Boss, aber ich habe Maura Gallagher gekannt." Er fuhr wieder zu uns herum, die Augen so weit aufgerissen, dass das Weiß in ihnen unnatürlich hell strahlte. „Sie ist es! Sie ist nicht tot!"

Seine kindliche Begeisterung war beinahe rührend.

Ein einziger Blick in Kens Gesicht verriet jedoch, dass er es alles andere als rührend fand. Wahrscheinlich hätte er Reuben am liebsten kurzerhand erschossen und danach dasselbe mit uns allen getan.

„Reuben", begann er gefährlich leise. „Setz dich wieder ins Auto. Du fährst den Fluchtwagen, schon vergessen?"

Reuben kniff die Augen zusammen, offensichtlich fassungslos. „Aber..."

„Lass ihn doch bleiben, Ken?", schaltete sich Maura wieder ein. Ihre Stimme hallte klar vernehmbar über den Platz, prallte an den Mauern der Fabrik ab und verlor sich in der Nachtluft. „Oder hast du wohl etwas zu verbergen?" Ihr Lächeln wurde breiter, die Falten in Reubens Stirn tiefer. „Du hättest nicht so sicher davon ausgehen sollen, mich unschädlich gemacht zu haben."

Kens Hände ballten sich zu Fäusten, doch Maura ließ ihn ohnehin nicht zu Wort kommen.

„Reuben." Sie schenkte dem Angesprochenen ein einladendes, strahlendes Lächeln, und einmal mehr war ich wie vor den Kopf gestoßen von ihren Schauspielkünsten. Kein Wunder, dass diese Frau es damals geschafft hatte, eine Armee von Oblivious um sich zu scharen und deren Mindsets zu lenken. „Ich erinnere mich tatsächlich an dich. Wie alt warst du damals? Neunzehn? Zwanzig? Jünger als mein Sohn jetzt."

Oblivious (Ziall)Where stories live. Discover now