14) Slenderman-Harry

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Nachdem Anne mich mit mir selbst im Krankenzimmer zurückgelassen hatte, waren mir einige Dinge aufgegangen, denen ich zuvor in all meiner Verwirrung keinerlei Beachtung geschenkt hatte.

Zu diesen Dingen gehörte zum Beispiel die Tatsache, dass ein dickes Pflaster an meiner Schläfe klebte, schräg über meiner linken Augenbraue. Und dass man mein rechtes Handgelenk verbunden und geschient hatte, obwohl ich mich gar nicht mehr daran erinnern konnte, mir dort eine Verletzung zugezogen zu haben.

Andererseits war während der Attacke so viel gleichzeitig passiert, dass vermutlich auch unmittelbar daneben ein Flugzeug abstürzen hätte können und es wäre unbemerkt an mir vorübergegangen.

Nachdenklich starrte ich in meine Teetasse, aus der inzwischen natürlich kein Dampf mehr aufstieg.

Es gab da eine Sache, die mich noch ein wenig mehr irritierte als so ziemlich alles andere: Ich war so ruhig.

Sollte ich nicht eigentlich völlig den Verstand verlieren? Mich panisch aus dem Bett strampeln, die Kanüle aus meinem Arm reißen und dann einen Fluchtversuch hinlegen?

Aber ... ein Fluchtversuch vor wem? Bisher war ich hier nichts und niemandem begegnet, wovor es sich zu fliehen gelohnt hätte. Im Gegenteil.

Dr. Twist – Anne – vermittelte mir dieses tiefe Gefühl der Gelassenheit. Als wäre sie ein Mensch, von dem mein Innerstes wusste, dass ich mich auf sie verlassen konnte, ohne etwas befürchten zu müssen. Dass ich ihr vertrauen konnte.

Was an völliger Irrationalität grenzte, immerhin hatte ich diese Frau heute zum ersten Mal in meinem ganzen Leben gesehen.

Die Tür flog auf und riss mich aus meinen Gedanken.

Reflexartig umfasste ich die Tasse in meinen Händen fester. Fast rechnete ich damit, Anne wiederzusehen. Oder vielleicht die junge Frau, Gemma. Oder sogar dieser Liam, von dem ich bisher nur wusste, dass er angeblich eine hässliche Frisur auf dem Kopf herumtrug.

Aber dann spürte ich, wie winzige Details fremder Aufregung in meine Wahrnehmung drangen, und sofort wusste ich, dass es sich um keine der vermuteten Personen handelte.

Stattdessen schob ein Kerl seinen Kopf durch die Tür. Ein junger Mann, hochgewachsen und schätzungsweise nicht recht viel älter als ich selbst, mit schokoladenbraunen Locken, die wirr in alle Richtungen abstanden.

In den Händen trug er eine Papiertüte, in der sich wohl irgendetwas Essbares befand, zusammen mit einer Colaflasche. Sein Gesichtsausdruck war verhalten und irgendwie verschmitzt, als er seinem Kopf einen schlaksigen Körper folgen ließ, ehe er die Tür leise wieder hinter sich schloss.

„Hallo." Verlegen grinste er mich an und offenbarte dabei an beiden seiner Wangen tiefe Grübchen. „Störe ich?"

Und als er dann aufsah und mir zusammen mit den Grübchen auch noch ein Paar smaragdgrüner Augen entgegenfunkelte, wusste ich sofort, dass dieser Typ definitiv Annes Familie angehören musste. Wenn ich so an Annes scheltenden Tonfall von vorhin zurückdachte, handelte es sich wohl tatsächlich um ihren Sohn.

Dann ging mir auf, dass besagter Sohn mit mir zu sprechen versuchte, und setzte schnell ein Lächeln auf.

„Hi. Ähm ... nein." Etwas ungeschickt stellte ich die Tasse weg. Nachdem ich eine Weile vergeblich gerätselt hatte, wie ich an ein verstauchtes Handgelenk gekommen war, hatte ich feststellen müssen, dass es leider doch mehr schmerzte als angenommen. Eine Tasse Tee in dieser Hand zu halten, war demnach eine schlechte Idee – auch wenn mich nichts davon abhielt, es trotzdem zu versuchen, versteht sich. „Bist du etwa der Essenservice?"

Oblivious (Ziall)Where stories live. Discover now