47) Begreifen

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Trotz des dicken Hoodies und der Lederjacke fröstelte ich erbärmlich, als ich das Smartphone aus der Jackentasche fischte. Zum Glück befand sich die Speicherkarte schon darin – mit meinen kalten, steifen Fingern hätte jeder Versuch vermutlich zu Unfällen geführt.

Den ersten Versuch hatte ich vorhin in Harrys und meinem Zimmer durchgeführt, nur um festzustellen, dass die App zum Öffnen der Datei Internet brauchte, das mir die mobilen Daten des Handys ohne Empfang nicht liefern konnte.

Natürlich gab es im Stützpunkt der Rebellen WLAN, aber das stand außer Frage. Jedenfalls, solange ich mich nicht mit einem unbefugten Gerät einloggen und sämtliche Alarmmechanismen auf mich aufmerksam machen wollte.

Demnach saß ich nun auf dem Dach des Gebäudes und blickte auf das leuchtende Straßennetz einer nächtlichen, fremden Stadt hinaus.

Meiner Vermutung nach handelte es sich beim Rebellenstützpunkt um ein altes Firmengebäude, das offiziell leer stand, jedoch einer Privatperson gehörte und demnach keinen staatlichen Kontrollen unterzogen wurde.

Der Weg aufs Dach war einfach gewesen. Niemand hatte mich aufgehalten oder nachgefragt, wohin ich wollte, nicht einmal Harry. Letzterer hatte mich lediglich zur Begrüßung in eine feste Umarmung geschlossen und sich dann zu Anne verabschiedet, offensichtlich nicht bereit für ein Gespräch.

Es tat weh.

In mir brannte das Verlangen, mich bei jemandem über das Geschehene auszusprechen. Die unsägliche Nervosität im Labor. Die Flucht. Nadjas Tod nur wenige Schritte neben mir, ihre Leiche, die Blutlache. Die für Anne bestimmte Kugel, der am Ende ein OOA-Agent zum Opfer gefallen war. Durch meine Hand. Oder besser gesagt, durch meinen Kopf, ohne meine bewusste Zustimmung.

Wie gerne hätte ich mit Harry darüber gesprochen. Natürlich konnte auch er mir keine Ratschläge geben oder irgendetwas an der Situation ändern, aber ich musste es einfach loswerden. Bei jemandem, dem ich vertraute.

Aber da er mir so klar und deutlich vermittelte, dass kein Interesse an einem Gespräch mit mir bestand, drängte ich ihn auch nicht dazu. Sicherlich wurde er ohnehin gerade von Anne in alles eingeweiht und brauchte eine Schilderung meinerseits gar nicht.

Mit einem dumpfen Gefühl im Magen lehnte ich mich an die Mauer zurück, auf deren Vorsprung ich mich niedergelassen hatte. Über mir hing ein bewölkter Himmel mit nur schwach hindurchschimmernden Sternen, zusätzlich übertüncht vom Licht des Vollmondes.

Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf, als erneut ein Windstoß über das Dach hinwegfegte und sich bis auf meine Knochen hindurchfraß.

Mit zittrigen Fingern ließ ich das Display des Smartphones aufflammen, stellte zufrieden fest, dass das Gerät hier oben uneingeschränkten Empfang hatte.

Eilig tippte ich den Ordner mit der Bezeichnung M.G.TD. an, verfolgte mit den Augen, wie der charakteristische Ladekringel erschien, der symbolisierte, dass das Gerät arbeitete. Ein Fenster öffnete sich, offenbarte ein grünes Logo mit dem Schriftzug Q-Dokumobil darunter. Darauf war ich vorhin auch schon gestoßen, bis ich kapiert hatte, dass die App Internetzugriff benötigte, um ordentlich zu laden.

Und den hatte ich jetzt.

Mit klopfendem Herzen umfasste ich das Smartphone fester und zuckte prompt zusammen, als das Logo verschwand und einer Auflistung wich.

1994/01/17-M.G.TD. lautete der Titel der ersten Datei.

Stirnrunzelnd scrollte ich ein wenig nach unten. Die Dateinamen setzten sich in chronologischer Abfolge fort, stoppten schließlich mit einem 1999/10/29-M.G.TD.

Oblivious (Ziall)Where stories live. Discover now