15) St. Hedwig

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„Das hier ist der geschlossene Teil", erklärte Harry, als wir aus meinem Zimmer traten. Dabei vollführte er eine solch ausladende Bewegung mit dem Arm, dass er mir beinahe einen Kinnhaken versetzt hätte. „Ups. Sorry."

Amüsiert nahm ich ein wenig Abstand. „Schon gut."

Harry klang so übereifrig. Für ihn schien es eine enorm ehrenvolle Aufgabe zu sein, mich zum nächsten Besprechungsort zu bringen und mir bei der Gelegenheit auch gleich noch eine kleine Führung zu geben.

„Wobei geschlossen der falsche Ausdruck ist", fuhr er unbeirrt fort, nun mit deutlich weniger Körpereinsatz. „Immerhin ist das hier keine Psychiatrie oder so. Der Zutritt ist den gewöhnlichen Patienten und Besuchern des Klinikums eben nicht gestattet. Aus ... Gründen."

Unsicher folgte ich ihm auf den Gang, schloss pflichtgewusst die Tür hinter mir, während ich mein Handy in die hintere Hosentasche meiner Jeans gleiten ließ. Obwohl das Ding ohne Saft natürlich vollkommen nutzlos war, hatte ich es an mich genommen, als Harry verkündet hatte, dass eine Besprechung anstand. Das lang ersehnte Informationsgespräch, wie ich vermutete.

Oder hoffte.

Jedenfalls verkörperte mein Smartphone für mich ein Stück Normalität. Es gab mir Ruhe, das Ding wie gewohnt bei mir zu tragen. Und außerdem war ich leider ein begnadeter Suchti, der ohne Handy einfach nicht aus dem Haus gehen konnte.

Letzteres dürfte wohl der Hauptgrund sein.

Nun gut.

„Gründe?", hakte ich nach, mehrere Türen und Abzweigungen später. Mein Gehirn arbeitete noch immer ein wenig langsam, während der Rest meines Körpers nach ein paar weiteren Stunden der Ruhe zum Glück wieder seine Bestform erreicht hatte. So bestformmäßig es mit einem verstauchten Handgelenk und einem überdimensionalen Pflaster im Gesicht eben ging. „Welche Art von Gründen sollen das denn sein?"

Bei der Erwähnung des Wortes Psychiatrie war ich hellhörig geworden. Was, wenn das hier gar kein Krankenhaus war, sondern ... nun ja, eine Einrichtung für psychisch Kranke, die den Bezug zur Realität komplett verloren hatten? Für Leute wie mich? Und all die Menschen hier, inklusive Harry, mir allerlei Schwachsinn auftischten, um mich ruhig zu halten?

Harry schien meine aufkeimende Panik zu wittern, denn er verlangsamte seine Schritte, ließ sich zu mir zurückfallen. Eine seiner großen Hände fand an meine Schulter, drückte diese beruhigend.

„Alles ist gut, okay?" Der Blick seiner smaragdgrünen Augen war eindringlich und erinnerte mich einmal mehr an den seiner Mutter. „Alle Gründe, die es gibt, bekommst du in ein paar Minuten. Man wird dir keinen einzigen vorenthalten. Und es gibt wirklich keinen zur Panik."

Es klang so ehrlich, dass schlagartig Verlegenheit in mir aufstieg. Seit wann war ich nur furchtbar paranoid?

„Tut mir leid." Ich atmete tief durch. „Es ist nur ... mit allem, was hier abgeht, sollte ich nicht so ruhig sein, verstehst du? Ich sollte in Panik verfallen. Ich sollte versuchen, meine Eltern zu erreichen. Oder meinen Therapeuten oder..."

„Deinen Therapeuten?" Zur Abwechslung schien nun Harry hellhörig zu werden. „Wann hast du mit dem das letzte Mal gesprochen?"

Irritiert über die brüske Unterbrechung hielt ich inne, um nachzudenken. „Gestern. Und danach ..." Ich stockte. „Direkt danach war der Überfall."

Kurz trat Stille ein.

Dann fluchte Harry laut. „Fuck. Das erklärt einiges. Und es bestätigt auch einiges."

Wo ich zuvor noch dazu bereit gewesen war, ruhig zu bleiben, naiv zu vertrauen und einfach abzuwarten, kochte nun Ungeduld in mir hoch.

Abrupt kam ich zu einem Halt, als Harry die Glastür am Ende eines schmucklosen, sterilen Gangs aufschob.

Oblivious (Ziall)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt