35) Spannungen

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„... keine Chance, dort jemanden unsereins einzuschleusen."

Nadja, die mir bisher nur als unsere Fahrerin bekannt gewesen war, schob Ken einen Packen zusammengehefteter Dokumente zu. Dann ließ sie sich in einen der bunt zusammengewürfelten Stühle des Besprechungsraums fallen – für eine einheitliche Möblierung schien das Budget der Rebellen nicht auszureichen. Oder sie zogen es vor, ihr Geld anders einzusetzen.

„Die Überprüfungen des Personals sind zu engmaschig", fuhr Nadja unheilvoll fort. Sah ganz so aus, als hätte sie in den letzten Stunden ein paar Nachforschungen angestellt. „Das Risiko, dass man Dr. Twist als Mutantin entlarven würde, wäre viel zu hoch. Sie hätte keine Chance, ihre eigenen Bluttests abzufälschen."

Wenn man davon absieht, dass die OOA ohnehin schon weiß, was im St. Hedwig Sache ist.

Ich behielt den Gedanken für mich und biss die Zähne zusammen. Zwar zweifelte ich nicht daran, dass Ken diese Information für überaus interessant befinden würde, hegte gleichermaßen aber die Überzeugung, dass seine Reaktion mehr als katastrophal ausfallen würde.

Womöglich würde er Panik verbreiten und darauf bestehen, das St. Hedwig ohne Zustimmung der Insassen auf der Stelle zu evakuieren, obwohl es keinen akuten Anlass dafür gab. Ein Fiasko.

Was mir allerdings viel größere Bauchschmerzen bereitete, war die Tatsache, dass Zayn sich nach wie vor... nun ja, hier befand. Als Gefangener. Seine Kollegen von der OOA mussten doch längst festgestellt haben, dass er fehlte, um sofort Alarm zu schlagen.

Außer natürlich, Kens Leute hatten dafür gesorgt, dass die entsprechenden Kollegen mundtot gemacht worden waren – oder gehirntot. Erinnerungstot. Was auch immer. Ich bezweifelte, das breite Spektrum der Obliviousfähigkeiten bisher auch nur ansatzweise kennengelernt zu haben.

Vor dem Start dieser Zusammenkunft hatte Ken Gallagher Harry und mir höchstpersönlich einen kleinen Rundgang im Stützpunkt der Cognizant gegeben. Nur einen ganz kleinen, selbstverständlich. Vermutlich, damit wir nicht zu viel wussten, sollte unsere Zusammenarbeit sich nicht so entwickeln, wie Ken sie sich vorstellte.

Zunächst hatten wir die Haupthalle kennengelernt – die Halle mit den unzähligen Schreibtischen und Computern, in der wir bei unserer Ankunft empfangen worden waren. Dann folgten die Trainingsräume, in denen sowohl Obliviousfähigkeiten als auch der Umgang mit Waffen verschiedenster Art trainiert werden konnten, und anschließend die kleine, aber erstaunlich gut ausgestattete medizinische Abteilung. Zudem die Kantine, der Gemeinschaftsraum ...

Der Gebäudekomplex war sehr geräumig. Geräumig genug, um zu ahnen, dass uns bei der Führung eine Menge vorenthalten worden war.

Der Block mit den Zellen zum Beispiel. Oder der Ort für die strategische Planung, an dem wir Blicke auf Dinge erhaschen hätten können, die nicht für unsere Augen bestimmt waren.

In welcher Stadt oder gar in welchem Land sich der Stützpunkt befand, war uns ebenfalls nicht bekannt, und ich hegte den Verdacht, dass das auch noch länger so bleiben würde. Jedenfalls solange wir weiterhin als Halbgefangene hier festsaßen.

Zwar nahm Ken die Bezeichnung Gefangene nicht ein einziges Mal in den Mund, aber die Tatsache, dass unser Zimmer bewacht wurde und wir ohne Begleitung nicht von A nach B laufen durften, dürfte Beweis genug sein. Aus rundum freien Stücken hielten wir uns definitiv nicht hier auf.

Vor allem Harry nicht. Mir selbst war Ken lediglich ein wenig suspekt, aber Harry schien ihn regelrecht zu verabscheuen.

Die Blicke, die er ihm zuwarf, wann immer sich eine Gelegenheit dafür bot, grenzten an Feindseligkeit. Offenbar war er immer noch empört darüber, einzig und allein als potenzielles Druckmittel gegen seine Mutter mitaufgesammelt worden zu sein. Wobei sich diese Rolle inzwischen wohl erübrigt hatte, wenn man Nadjas eben verkündete Neuigkeiten bedachte.

Oblivious (Ziall)Where stories live. Discover now