2) Der Kartontyp

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Ein langer Tag lag hinter mir.

Ein langer Tag mit unerwünschten Konversationen in meinem Gehirn, zweieinhalb Tabletten des Antipsychotikums und den Kopfschmerzen des Jahrtausends.

Ich hatte das Gefühl, auf der Stelle zusammenbrechen und ein Zwangsschläfchen einlegen zu müssen, wenn ich nicht sofort in meine Wohnung kam und mich mit Tee abfüllen konnte. Aber so verlockend dieses Schläfchen auch klang, wusste ich jedoch, dass ich der von den Tabletten hervorgerufenen Müdigkeit nicht nachgeben durfte.

Das hatte ich in früheren Zeiten getan, in dem Glauben, ich würde meinem Kopf und meinem Restkörper damit etwas Gutes tun. Fehlanzeige. Der darauffolgende Tag war nur noch stimmenreicher gewesen, die Kopfschmerzen noch bohrender und darüber hinaus auch noch mein Tag- und Nachtrhythmus vollkommen in der Tonne.

Außerdem waren da natürlich auch noch die Essays, die geschrieben werden wollten. Quinn hatte mir zwar von Anfang an mitgeteilt, dass er mir jederzeit ein Attest ausstellen konnte, wenn ich es aufgrund meiner ... Einschränkung nicht schaffte, etwas fristgerecht abzugeben oder pünktlich zu einem Prüfungs- oder Referatstermin zu erscheinen, aber ich hatte das Angebot kategorisch abgelehnt.

Seit die Stimmen die so sorgfältig aufrechterhaltene, medikamentöse Barriere durchbrochen hatten, war ohnehin schon genug Abnormalität in meinem Leben. Meine Motivation, auch noch an der Uni, insbesondere unter den Professoren, den unheilbar-krank-Stempel aufgedrückt zu bekommen, hielt sich demnach in Grenzen.

Noch dazu, wo ich so fabelhaft durch die gesamte Schulzeit gekommen war. Jedenfalls fabelhaft genug, um mir mein Stipendium zu sichern, das es mir überhaupt erst ermöglicht hatte, fernab der Heimat in einer mittelgroßen Stadt in England zu studieren. Ohne nebenher arbeiten oder meine Eltern finanziell anzapfen zu müssen, wohlgemerkt.

Meine Leistungen in der Schule waren tatsächlich tadellos gewesen. Ohne Ausnahme, ohne den kleinsten Ausrutscher. Wie ich das geschafft hatte, war mir bis heute ein Rätsel. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass ich nie dieser typisch perfektionistische, lernversessene Schüler gewesen war, der seine gesamte Freizeit dafür nutzte, dem Unterricht per Eigenstudium voraus zu sein. Gute Noten hatte ich mit einem Achselzucken hingenommen, sie aber nie bewusst angestrebt.

Vor Klausuren hatte ich ein paar halbherzige Lernstunden eingelegt, um das Material wenigstens ein paar Mal durchzulesen, aber das war es dann auch schon wieder gewesen. Bloßes Durchlesen hatte gereicht, um mir eine Spitzennote zu bescheren.

Zwar vergaß ich die Sachen, die mich wirklich einen Dreck interessierten, ebenso in Rekordschnelle wieder, aber Nachhaltigkeit interessierte in diesem Bildungssystem ohnehin niemanden. Nur die Moment-Leistung.

Dafür blieben Informationen, für die ich doch einen winzigen Funken Interesse aufbringen konnte, umso länger in meinem Gehirn haften und meldeten sich irgendwann wieder zu Wort. Meistens in den unpassendsten Situationen, wenn ich selbst schon gar nicht mehr damit gerechnet hatte, dass dieser Kram noch abgespeichert war.

Zum Beispiel irgendwelche Infos über das Paarungsverhaltung von Pinguinen. Dabei wollte ich doch gar nicht wissen, wie Pinguine Nachkommen erzeugten. Schon gar nicht bis ins kleinste Detail.

Wie gesagt, mein Kopf war merkwürdig.

„Hallo. Kann ich hier kurz durch?"

Ich fuhr beinahe aus der Haut, als sich unmittelbar neben mir eine männliche Stimme zu Wort meldete.

Nein, nicht neben mir. Vor mir.

„Ähm." Irritiert starrte ich den Karton an, der sich mehr oder weniger direkt an meinem Gesicht befand. „Was?"

Oblivious (Ziall)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt