Hitze

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Es war das alte Spiel. Es ging um die Hackordnung, um den Rang innerhalb der Mannschaft. Das hier war eine Seemannsprüfung wie bei Janko, der einst von Cornelis auf die Probe gestellt worden war. Und nun war sie an der Reihe.

Sie galt nicht mehr als Schiffsjunge, niemand nannte sie mehr Moses, sie hatte sich den Respekt der meisten erkämpft. Auf dem Weg zum Jungmatrosen und bald vollwertigen Seemann durfte sie keine Schwäche zeigen. Und sie stand allein - ihre Freunde waren ebenfalls in die Pulverkammer abkommandiert worden. Sie mussten die Pulverfässer umherrollen, damit der Inhalt nicht verklumpte. Eine aufwendige Arbeit, das konnte dauern ... Sie musste beweisen, dass sie allein zurechtkam. Das wussten auch die anderen.

Ihr Bauch pochte immer noch von dem Tritt, ihr Atem stolperte. Ihr Zorn wuchs. Plötzlich wusste sie, was zu tun war. Sie ließ die Wut weiter in ihr brodeln, aber kontrolliert. Damit wuchs auch ihre Kraft. Sie hatte es schon einmal getan ... aber noch galt es abzuwarten und ihn beobachten ...

Er trieb seine Spielchen weiter, lachte ihr höhnisch ins Gesicht und machte obszöne Bewegungen mit der Zunge. Indes zog sich der Kreis der Matrosen immer enger um sie, sie feixten, tanzten um sie herum. »Meisje!« - »Liebchen!« - »Min Deern«, so spotteten sie in verschiedenen Dialekten durcheinander.

Nun reichte es ihr. Sie ließ sich nicht herunterputzen, nicht von der Mannschaft und schon gar nicht von diesem hässlichen Kerl! Im selben Moment hob eine Welle das Schiff, sie rutschte auf ihren Kontrahenten zu ... anscheinend war die Zeelandia derselben Meinung wie sie: dass es genug war. Inzwischen hatte die Hitze ihr nasses Hemd größtenteils getrocknet, so dass sie es wagen konnte, sich freier zu bewegen. Auch die Sonne war auf ihrer Seite.

Sie warf einen raschen Blick um sich. Vom Profos war weit und breit nichts zu sehen. Gut so, sie hatte wenig Lust, wie Gerrit ein Messer durch die Hand gerammt zu bekommen. Das Achterdeck war leer, kein Bakker, kein Thorsson.

Sie rollte ihre Schultern vor- und rückwärts, machte sich locker. Jetzt tanzte sie mit.
Sie spannte die Beinmuskeln an, nahm einen Anlauf, sprang mit erhobenen Fäusten auf ihn zu - und verpasste ihm einen wuchtigen Stoß gegen die Brust.

Er japste auf, wankte nach hinten ... sein Fuß verfing sich in einem Haufen zusammengerollter Taue. Da verlor er vollends den Halt und landete mit einem dumpfen Aufprall inmitten der Seile. Seine Versuche, sich daraus zu befreien, scheiterten kläglich. Er saß dort festgeklemmt!

Dies und sein höchst verdutzter Gesichtsausdruck brachte die gesamte Mannschaft zum Lachen. Sie schlugen sich auf die Knie und trampelten vor Begeisterung, dass die Planken bebten.

Während Lorena den Triumph genoss, brodelte in ihr immer noch die Wut gegenüber den Matrosen, die sie so sehr verspottet hatten. »Wehe, ihr treibt mit mir noch mal eure Späßchen! Die Sonne hat euch wohl das Hirn verbrannt!«, brüllte sie.

Ihr Wutschrei brachte die Männer zum Schweigen, jedoch nur für einen kurzen Moment. Dann hatten sie sich von ihrer Verblüffung erholt: »Na, hoppla, unser Timo wehrt sich!«, rief einer. Ein anderer fügte hinzu: »Der Lange hat aber einen guten Schlag drauf!«

Lorena hörte es mit Vergnügen. Die Anerkennung tat gut; mehr hatte sie nicht gewollt.

»He, was ist da los?« rief jemand wutschnaubend. Es war der Profos! Mit hochrotem Gesicht eilte er herbei und hielt erst an, als er dicht vor Lorena stand. Er stemmte die Arme in die Seiten und neigte den Oberkörper vor. Die Schweißtropfen liefen über sein wettergegerbtes Gesicht. Das tat jedoch seiner Autorität keinen Abbruch; seine Aura aus Härte und Disziplin überstrahlte alles.

Sie schluckte. Er hatte den Streit tatsächlich mitbekommen! Das war aber auch kein Wunder, bei der ruhigen See war jeder Laut an Deck viel deutlicher vernehmbar.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt