Von Gesangbuch und Knoten

214 34 92
                                    

Wie gut, dass sie den Mund gehalten hatte! Sonst hätte sie ihn tief gekränkt, denn er nahm ihr sofort das schmutzige Geschirr aus den Händen.

„Deine Finger zittern ja", bemerkte er voller Mitleid. Er krempelte die Ärmel hoch. „Für heute übernehme ich den Abwasch, hau' dich mal aufs Ohr. – Jeder Anfang ist hart, gerade für einen Moses, aber du wirst dich schon dran gewöhnen." Väterlich tätschelte er ihr die Wange.

Sie wusste gar nicht, was sie auf dieses großzügige Angebot erwidern sollte. „Da – danke," konnte sie nur stammeln.

„Is' schon klar. Bald wirst du der beste Mann auf dem Schiff sein, da muss ich mich doch gut mit dir stellen!" Er zwinkerte ihr schelmisch zu. „Eines Tages bring' ich dir das Essen in die Offizierskajüte."

„Jetzt nimmst du mich aber auf den Arm", gab sie zurück. „Sehr witzig!"

Er hob die Schultern. „Wer weiß? Es kann alles Mögliche geschehen."

Sie brach in Lachen aus. „Ja, wenn der Mond bei Tag scheint und die Sonne bei Nacht." Wenn er wüsste, dass ich ein Mädchen bin ...

Er drehte sich um, entnahm aus einem Regal einen Korb und reichte ihn ihr. „Hier, Zwieback. Du darfst dir gleich drei herausnehmen, damit dein Magen nicht so knurrt."

Am liebsten wäre sie ihm beinah um den Hals gefallen, doch sie bedankte sich artig und griff zu. Herzhaft biss sie in das harte Gebäck. Schnell hatte sie die Kostbarkeit vertilgt, und zum Schluss erhielt sie den versprochenen halben Becher Branntwein, den sie mit Bedacht leerte. Das ungewohnte Getränk kitzelte in der Kehle, rann wie flüssiges Feuer durch den Körper und wärmte die müden Glieder. Sie fühlte sich angenehm entspannt.

Den Rülpser danach unterdrückte sie nicht; ein Junge durfte das. Wohlerzogenheit forderte nur Spott und Schikanen bei den rauen Seeleuten heraus, darauf konnte sie gerne verzichten.

Die Reaktion von Rix gab ihr recht. „Ei, das schmeckt aber gut, na?", sagte er und klopfte ihr kameradschaftlich auf die Schulter.

Sie nickte und wischte den letzten Tropfen aus dem Mundwinkel. Sich nochmals dafür bedankend, dass er ihre Arbeit übernahm, wünschte sie ihm gute Nacht und verließ die Kombüse, aus der alsbald das Klappern von Geschirr, lautes Plätschern und ein anderes Geräusch drang.

Schrr ... schrr ...

Fast hätte sie laut aufgelacht. Dieses Geräusch kannte sie nur zu gut!

Für den Schipper und seine Offiziere gab es eigene Kajüten, die übrige Mannschaft musste sich irgendwo unter Deck einen freien Platz zum Schlafen suchen. In Decken eingerollt, lagen die Matrosen dicht an dicht wie die Heringe nebeneinander. Schiffsjungen sowie Leichtmatrosen nächtigten unter dem Vorkastell, doch Lorena blieb möglichst bei ihren Freunden.

Sie machte sich auf die Suche. Auf Zehenspitzen tappte sie an den Schlafenden vorbei und spähte ... Das wenige Licht, das durch die Luke fiel, half etwas, sich zurechtzufinden. Meistens lagen die Freunde hinter aufgestapelten Seekisten oder in der Nähe des Gangspills, der sich über zwei Decks erstreckte. Und richtig – so war es auch diesmal. Am Fuß der Ankerwinde ragte ein hoher Hügel auf – unter dem sich vermutlich der Bärenkörper von Ove verbarg – und nicht viel weiter entfernt schimmerte matt der gelbe Schopf von Janko. Wie verabredet, hatten sie einen Strohsack zwischen sich freigehalten.

Vorsichtig stieg sie über die Körper der Schnarchenden hinweg und legte sich auf ihren Platz nieder. Selbst eine Decke fehlte nicht; sie mummelte sich darin ein und schloss die Augen. Zwar würde bei jedem Schichtwechsel neue Unruhe entstehen, doch war sie mittlerweile so sehr daran gewöhnt, dass sie nur – wenn überhaupt – kurz aufwachte, sich umdrehte und wieder weiterschlief. Die Weckrufe, das Schnarchen und Grunzen der anderen verschmolzen mit dem ewigen Rauschen des Meeres zu einer ganz eigenen Melodie, die sie durch die Träume begleitete.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Where stories live. Discover now