Im Auge des Sturms II

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Am fernen Horizont zeichnete sich eine dunkle Wand ab, die sich auf sie zu bewegte. Es war eine Welle, hoch wie ein Turm, mit weißem Kamm und rinnenden Wasserbächen; es sah aus, als ob sich ein riesiges Maul langsam öffnete, bereit, das Schiff und seine Besatzung zu verschlingen. Das, was da anrollte, war ein Reiter der Apokalypse, der Bote ihres Untergangs, in Gestalt einer monströsen Welle. Bei dem Anblick spiegelte sich in manchen Gesichtern der Matrosen pure Hoffnungslosigkeit; andere zeigten eine stoische Todesverachtung.

Ein unheimliches Grollen drang aus der Tiefe herauf.

Mein Gott, das ist unser Todesurteil, dachte Lorena, es ist aus und vorbei, gleich werden wir in die Tiefe gerissen!

Neben ihr betete Rix laut und beschwörend: »Stella Maris, Stern des Meeres, leuchte uns und führe uns auf unserem Weg! Stella Maris, Stern des Meeres ...« Es war das alte Gebet der Seefahrer, um drohendes Unheil abzuwenden.

Auch Lorena wandte sich innerlich an eine höhere Macht. Wenn es dich gibt, Gott, dann rufe ich dich an. Du hast mich schon einmal gerettet, nun rette uns alle! Sie presste die Hand auf die Brusttasche, in der sie den Rubin eingenäht hatte. Das war alles, was sie besaß - ihr ganzer Schatz. Plötzlich weckte ein lautes Geräusch von achtern ihre Aufmerksamkeit. Sie reckte den Hals, um mehr zu sehen. Was war denn dort los? Durch die ständigen Auf- und Niederbewegungen des Schiffes konnte sie gelegentlich einen Blick auf das erhaschen, was sich auf dem höher gelegenen Achterdeck abspielte: es gab einen heftigen Wortwechsel zwischen Bakker und dem Rudergänger. Der Schipper fuchtelte mit den Armen und zeigte auf die Welle, doch der Rudergänger schien dies falsch zu verstehen und lenkte das Schiff in eine andere Richtung, was Bakker mit wildem Kopfschütteln quittierte. Dann tauchten sie bei der nächsten Welle wieder ins Tal, und die Szenerie verschwand vor ihren Augen. Beim Hochkommen erblickte sie als erstes Jankos leuchtend gelben Schopf. Er hatte sich vom Gangspill losgebunden! Geschickt hangelte er sich am Geländer der Treppe zum Achterdeck hoch und stand plötzlich neben dem Rudergänger.

Von da an schien die Zeit wie eingefroren, die Sekunden dehnten sich zu langen Minuten aus ...

Janko stieß den Rudergänger beiseite und ergriff das Ruder. Erneut deutete Bakker in eine bestimmte Richtung. Janko nickte, stemmte sich gegen das Ruder und steuerte darauf zu.

Die Riesenwelle rollte heran ...

Sahen seine scharfen Augen mehr als andere? Hatte er begriffen, was Bakker beabsichtigte? Nun lag das Leben aller in seinen Händen, in den Händen Janko Staals, des einstigen Strandjers von Amrum.

Doch die Zeelandia wollte nicht gehorchen. Wind und Wellen widersetzten sich seiner Lenkung. Thorsson sprang ihm zu Hilfe, und gemeinsam stemmten sie sich gegen das Ruder. Dieser Druck brachte sie endlich in die richtige Position, schräg zur Monsterwelle, die sich über ihnen wölbte. Die Zeelandia nahm Anlauf ...

... und der Orkan, plötzlich zum Komplizen geworden, trieb sie mit mächtigen Böen nach oben, immer weiter hoch! Zügig erklomm sie die Wasserwand, fuhr auf den aufgerissenen Rachen der Welle zu - doch da ließ der Wind ein wenig nach, sie glitt mit dem Heck die steile Wellenfront hinab ...

Jeden Augenblick drohte sie sich der Länge nach zu überschlagen und kieloben im Wasser zu treiben - jedoch packte die Sturmfaust erneut zu, blähte das Sturmsegel auf, das sich zum Zerreißen spannte, und stieß sie hoch. Hinauf, hinauf! Die Zeelandia durchschnitt die Spitze der Welle, ritt auf dem schäumenden Wellenkamm und balancierte am Rand entlang ... und kippte hinunter auf die andere Seite. Das Heck in den Himmel, den Bug nach unten, flog sie ins Wellental und tauchte klatschend ins Meer. Der Rumpf erzitterte, die Zeelandia schlingerte wild, gewann das Gleichgewicht langsam zurück und setzte die Sturmfahrt fort.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Where stories live. Discover now