Ein Geheimnis

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Lorena war zu aufgewühlt, um einen klaren Gedanken zu fassen; immer noch sah sie Hauke vor sich, wie er mit flackernden Augen vor ihr stand. Sie setzte sich ins Gras und zwang sich, ihre Wahrnehmung ganz auf die Außenwelt zu richten ... auf das Wattenmeer, die bunten Vogelschwärme, die wolkengleich über den Schlickfeldern und Sandbänken auf- und niederstiegen, die Halligen, die von weitem aussahen wie dahintreibende Quallen. Nach und nach beruhigte sich ihr Geist, von neuem nahm sie ihre Überlegungen auf: es herrschte Ebbe ... sollte sie einfach fortlaufen? Zu Eilien? Dies wäre das Klügste - doch irgendetwas hielt sie hier zurück. Es fühlte sich falsch an.

Gehe nicht. Noch nicht, flüsterte eine Stimme in ihr.

Sollte sie ihrem Gefühl oder ihrem Verstand folgen? War es aus Mitleid mit Hauke? Doch Mitleid konnte selbstmörderisch sein. Warum bloß war er rückfällig geworden? Lange Zeit war es gutgegangen, er hatte ihr viele Freiheiten gelassen, hatte ihr vertraut. Woher jetzt dieser Wandel zum Schlechten?

Sie dachte eingehend nach. Wann eigentlich hatte es angefangen? War es wieder diese Traurigkeit, die ihn lähmte oder so unerträglich launisch machte? Statt mit ihr übers Watt zu laufen, was ihm immer Freude bereitet und gutgetan hatte, verkroch er sich im Haus. Was war los mit ihm? Ihre Gedanken kreisten und kreisten, aber sie fand keine Antwort darauf.

In dieser zwiespältigen Verfassung verbrachte sie eine Stunde auf dem Deich, bis sie merkte, dass sie erbärmlich fror. Ihr Wollumhang war inzwischen von Feuchtigkeit durchzogen. Zuerst hatte sie die Kälte kaum gespürt; vorhin hätte sie in der großen Aufregung mit ihrer inneren Hitze sämtliche Öfen der Inselbewohner beheizen können. Nun zwang sie sich endlich zum Handeln. Ich bin kein kleines Kind mehr, das vor Schwierigkeiten heulend davon läuft. Eine Chance gebe ich ihm noch, er hat sie verdient. Einmal noch muss ich ihn sehen, bevor ich mich entscheide. Hier und Heute. Janko wird mich jederzeit auf Süderoog finden.

Sie sprang auf, überprüfte vorsichtshalber noch den korrekten Sitz des Dolches im Stiefel, schob ihn heraus und wieder zurück. Ganz leicht glitt er aus der Lederscheide. Für alle Fälle ... Wild entschlossen machte sie sich auf den Weg nach Hause. Vielleicht zum letzten Mal.

Schon beim Näherkommen bemerkte sie ein Blitzen und Blinken im Moos, sie ging schneller - und sah dann die Bescherung: auf der Wiese vor dem Haus lagen mehrere Flaschen verstreut, alle zerbrochen oder zerschlagen, eine klare Flüssigkeit versickerte im Boden. An der Hauswand war noch ein Rinnsal zu erkennen. Sie sog scharf den Atem ein. Was zum ...! Hoffentlich trank Fenja nicht davon oder verletzte sich gar an den Scherben! Rasch blickte sie zur Tür - sie stand halboffen. Sehr gut! Dann konnte sie unbemerkt hineinschlüpfen.

Doch auf der Türschwelle wartete schon Fenja. Heftig mit den Flügeln schlagend, sperrte sie den Schnabel auf und zu, ohne aber zu gackern, als wollte sie um Ruhe bitten. Und schon flitzte sie davon, ins Innere des Hauses. Lorena folgte ihr verdutzt.

Fenja führte sie direkt zur Schlafnische. Die Klappe des Schrankbetts stand weit offen; sie trat auf Zehenspitzen näher ... und musste schlucken.

Hauke ruhte darin, die Decke bis zur Brust gezogen, als fröre er. Ein erschöpfter Ausdruck lag auf seinem kalkweißen Gesicht. Er sah aus wie erloschen.

Erschrocken stürzte sie zu ihm und rief leise seinen Namen.

Das weckte ihn aus seinem Dämmerschlaf, er schlug die Augen auf - und wider Erwarten war sein Blick klar und fest. Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht, wie entschuldigend. Er winkte sie näher heran. „Setz' dich nur her zu mir, Lyka, ich habe dir etwas zu sagen." Seine Stimme zitterte leicht.

Sie gehorchte und setzte sich auf den äußeren Rand des Bettes.

Hauke räusperte sich und begann zu erzählen, stockend, mit kleinen Pausen zwischendurch. Er habe sich bei der Deicharbeit übernommen, und seine Kräfte überschätzt. Er wollte nicht nur als Aufseher und Antreiber auftreten; so hatte er sich besonders angestrengt, um zu beweisen, wie gut er noch mithalten konnte, hatte mit den Arbeitern zusammen die schweren Kleisäcke zum Deich gezogen, um ihnen ein Vorbild zu sein, ein ums andere Mal ... die Strandinger seien begeistert von ihm gewesen. Soviel Anerkennung hätte ihn beflügelt, selbst die schweren Karren hatte er teilweise alleine gezogen. Manchmal war ihm dabei schwarz vor Augen geworden, der kalte Schweiß sei ihm ausgebrochen, aber er hatte es überspielt. Er habe allen zeigen wollen, wie wichtig gerade dieser Deich für die Insel war; so habe er mit seinem Arbeitseifer schließlich alle mitgerissen. Dann gesundete Tjark und konnte seinen Platz wieder einnehmen. Der herzliche Dank seines Freundes hatte ihm so gutgetan! Er war so stolz gewesen über das Erreichte und seine wiedergewonnene Ehre.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Where stories live. Discover now