Das Gold der Uthlande

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In den folgenden Wochen lernte Lorena, wie man sich das Wattenmeer vertraut machte. Wider Erwarten fühlte sie sich in dieser glitzernden Schlammwelt bald genauso wohl wie er. Es war etwas völlig anderes, als in sicherer Ufernähe durch den Schlick zu stapfen. Diese Weite! Diese Freiheit! Und wie spannend, dabei zu wissen, dass es nicht ungefährlich war! Diese plötzliche Begeisterung für Abenteuer kam für sie selbst überraschend. Im Nachhinein war sie Hauke fast dankbar, dass sie ihn nun immer begleiten sollte.

Besonders aufregend fand sie die Suche nach Schiffstrümmern, die nach einem Sturm in schöner Regelmäßigkeit auf dem Watt verstreut lagen. Bei solchen Gelegenheiten führten sie stets das Flachboot mit, um das eingesammelte Strandgut leichter transportieren zu können. Und falls Leichen angeschwemmt worden waren, überließ sie es Hauke, diese durchzusuchen. Dies war ihr nun doch zu schaurig.

Es blieb nicht beim Schlicklaufen und Botengängen. Zwar hatte es Wochen, ja sogar Monate gegeben, in denen es sich leicht vom Erlös des Strandgutes leben ließ; aber allein auf das Glück zu vertrauen, hieß, auf Sand zu bauen. Stattdessen war es klüger, etwas abzubauen – nämlich Torf, das salzwasserdurchtränkte Gold der Uthlande.

Im Watt vor der Hallig Hooge lag der Torf verborgen, aus dem das weithin berühmte Friesensalz gewonnen wurde. Inzwischen gab es feineres, weißes Salz, trotzdem wurde das bitter schmeckende Friesensalz gerne zum Konservieren und Pökeln verwendet und war sowohl in den nördlichen Ländern als auch im Rheinland immer noch begehrt.

Die beste Zeit zum Tuulgraben - den Torf aus dem Schlick ausgraben - war die warme Jahreszeit mit dem beständigen Wetter, nur dann rauchten die Meiler, wurde das Salz gesiedet.

So zog Hauke auch in diesem Sommer bei einsetzender Ebbe mit dem Flachboot los, die schwarze Ernte einzuholen, und zum ersten Mal nahm er Lorena mit. „Zu zweit schaffen wir mehr, und du paß auf, wann der Strom kentert", hatte er befohlen. Ein wenig war sie stolz darauf, dass er ihr das zutraute.

An einer Stelle, wo es runde Mulden im Watt gab, machte er halt. Auf ihren fragenden Blick hin murmelte er: „Es sind ehemalige Grabungsstellen. Aber hier gibt es Salztorf, immer noch."

„Warum gehen wir nicht gleich zum Torfflöz, den die anderen Tuulgräber im Frühjahr freigelegt haben? Das ist leichter!"

Er knurrte. „Leichter, ja. Aber so bekomme ich weniger 'raus! Frag' nicht so dumm."

Sie presste die Lippen zusammen. Warum hatte sie überhaupt gefragt? Ein Hauke Eissen teilte nicht. Wozu mit anderen zusammenarbeiten und sich den Erlös teilen? Er hatte ja sie.

Hauke machte sich sofort ans Werk. Als Erstes hob er eine rechteckige Grube aus, nahm den Torfspaten - welcher einen kurzen, leicht gebogenen Stiel, sowie ein langes, schmales, rechteckiges Spatenblatt mit spitzer Einstechkante besaß - und schnitt damit den Torf aus dem Schlick. Er arbeitete zügig, gleichmäßig, sie half beim Aufladen, dabei nahm er wenig Rücksicht. Er warf ihr die Brocken vor die Füße, und sie musste zusehen, wie sie die glitschigen und nassen Blöcke ins Boot schaffte und aufstapelte. Anfangs mühte sie sich sehr damit ab, der Schweiß lief ihr in Strömen an den Seiten hinunter, sie hielt jedoch unverdrossen durch. Sie wusste, in den Uthlanden waren Härte und Zähigkeit hochgeachtet, und vielleicht war dies der einzige Weg, die Herzen der Strandinger doch noch zu erobern.

„Spute dich, es sieht nach Regen aus", brummte Hauke, und sie gehorchte sofort. Der Regen spülte das Salz aus dem Torf wieder aus, die Ernte war dann weniger wert, die ganze Mühsal umsonst. Aber sie hatten Glück; der Wind vertrieb die Regenwolken in die andere Himmelsrichtung. Sie schufteten, bis die Flut kam, das Boot sich hob und sie nach Hause fahren konnten.

Einen kleinen Teil der Torfladung behielten sie stets für sich zum Heizen, den anderen Teil karrten sie hinüber in die Edomsharde, dem östlichen Teil von Strand, wo ihn Tjark Brodersen, der als Salzvogt die Aufsicht über den Salzverkauf hatte, in Empfang nahm. Er war Haukes Freund aus Jugendtagen und bezahlte ihn besser als die anderen Torfstecher.

Sein Sohn Sieverd verteilte den Torf zur Weiterverarbeitung an die Salzsieder. Diese waren Fremdarbeiter, meist aus Jütland, die in zugigen Lehmhütten am Deich hausten und froh über ein halbwegs geregeltes Einkommen waren. In der Salzsiederhütte hingen über einer Feuerstätte die Kupferkessel, in denen der getrocknete und zerkleinerte Torf zu Asche verbrannt und anschließend mit Seewasser aufgekocht wurde. Am Ende der Prozedur bildete sich eine dicke Kruste, die helleres und dunkles Salz enthielt; nach dem Trocknen war es bereit zur Verwendung und konnte in den Handel gebracht werden.

Sieverd war ein schmalgliedriger Bursche mit heller Haut und ebensolchen Augen. Er behandelte Lorena freundlich, aber reserviert. Schließlich war er der Sohn eines angesehenen Mannes und Strandinger noch dazu; sich näher mit einer Landfremden wie Lorena einzulassen, verbot die Sitte. Die Strandinger blieben unter sich, wie es die alte Ordnung seit Vorväter Zeiten befahl, und ließen es Lorena spüren. Über Jahre hinweg hatte sie sich zum Steinerweichen einsam gefühlt, aber das seltsame Verhalten der Leute ihr gegenüber war schlimmer. Sie wichen sofort zur Seite aus, sobald sie ihnen begegnete. Als würde ihr der Ruch des Fremden wie eine Krankheit sichtbar an ihr haften. Gerne hätte sie darüber gelacht, wenn es nicht so traurig gewesen wäre. Niemand mochte mit ihr etwas zu tun zu haben; je eher sie es akzeptierte, desto besser.

Tag für Tag fuhren sie zum Tuulgraben hinaus, solange das schöne Wetter anhielt. Einmal geschah es, dass auf der Rückfahrt das Boot gefährlich schwankte und die Fracht ins Wasser zu kippen drohte. Lorena schaffte es, die rutschenden Torfstapel solange festzuhalten, bis das Boot wieder ruhig lag. Hauke sparte nicht mit Lob. „Du bist kräftig wie ein Bursch' – hab' ich's doch gewusst!" Die Bewunderung in seiner Stimme ließ ihr Herz höher schlagen; sie nickte knapp und ließ es dabei bewenden. Dafür schuftete sie noch härter. Sie wollte ihm zeigen, wozu sie imstande war. Ihre heimlichen Tränen, die ihr die körperliche Anstrengung herauspressten, behielt sie für sich. Sie hatte schließlich auch ihren Stolz. Darin war sie eine waschechte Friesin.

Dafür änderte sie ihre Meinung über Hauke. Je länger sie mit ihm zusammenarbeitete, desto mehr erfasste sie, welche Kaltblütigkeit dazu gehörte, Tag für Tag den Gefahren im Watt zu trotzen. Zum ersten Mal empfand sie fast so etwas wie Achtung für ihn, ja, sogar Bewunderung. Wenn er sie doch nur etwas freundlicher behandeln würde! Schließlich trug sie zum Lebensunterhalt bei, ohne zu klagen. Die wochenlange Knochenarbeit des Tuulgrabens hatte ihr Muskeln an den Oberarmen, breitere Schultern und einen kräftigen Rücken beschert, ihre Oberschenkel waren hart und muskulös geworden. Nun konnte sie mit starken Händen und Fingern fast ebenso zupacken wie Hauke. Einerseits freute sie sich über die Zunahme an Kraft, andererseits hatte die Veränderung ihre Schattenseiten. Wenn das so weiterging, würde sie wohl für immer allein bleiben. Kein Mann wollte eine halb männliche Frau heiraten. Schon jetzt war es schwierig mit der Nadelarbeit – Stopfarbeiten gelangen problemlos, aber zierliche Stickarbeiten konnte sie vergessen. Ihre Finger waren nun zu grob für derlei Feinarbeiten. Neulich hatte sie einen Teller zerbrochen, bloß weil sie ihn angefasst hatte. Dank Hauke war sie zu einem Zerrbild geworden; er hatte sie zu einem Ungeheuer gemacht!

Dabei hätte er durchaus eine Wahl gehabt, nämlich für das gesparte Geld ein kleines Haus mit Land zu kaufen. In guten Zeiten – das hieß, wenn der Blanke Hans sie in Ruhe ließ – war das dem Meer hart abgerungene Land in den Kögen so fruchtbar, waren die Weiden so fett und saftig, dass die Bauern mehr ernteten, als sie verbrauchen konnten, also verkauften sie es genauso wie das Friesensalz. Die Einnahmen machten sie unabhängig – Leibeigenschaft wie anderswo gab es nicht – ihre Söhne besuchten sogar Universitäten, und manche Strandinger waren so wohlhabend, dass sie ihre Trachten mit goldenen und silbernen Ketten schmücken konnten. Der Strand, die größte der nordfriesischen Inseln, war die Kornkammer der Uthlande. Warum eigentlich trieb sich Hauke lieber tagtäglich im Watt herum, wühlte nach Torf und lebte vom Unglück der Gestrandeten, anstatt es den Bauern gleichzutun?

Bald schon bekam sie Antwort.
Eine furchtbare.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Where stories live. Discover now