Der Blanke Hans

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Als die Kornfelder abgeerntet, sich das Laub verfärbte und die ersten Blätter durch die Luft segelten, begann Hauke die Warft, auf der ihr Haus stand, zu erhöhen; Schicht auf Schicht legte er das für diesen Zweck gesammelte Heu auf. Nachdem er fertig war, prüfte er drinnen die Eichenbalken des Ständerwerks, die das Dach trugen, eingehend auf Holzwurmbefall. Im Herbst und Winter konnte es sehr ungemütlich werden; kam es zum Äußersten und das wilde Wasser spülte die Wände fort, konnten sie sich immer noch auf das Dach flüchten, der einzigen Rettungsinsel im brodelnden Meer. Bei den bisherigen zwei Sturmfluten waren sie bisher verschont geblieben; er vertraute darauf, dass es weiterhin gutging. Mochte sich der Blanke Hans gefälligst draußen auf See austoben!

Lorena, die indes draußen das Reet zurechtschnitt, mit dem Hauke nachher das Dach ausbessern wollte, legte eine kurze Pause ein. Durstig schöpfte sie das Wasser aus der Zisterne, in der das Regenwasser aufgefangen wurde, und trank. Trinkwasser war knapp in den Uthlanden, entweder war es zu salzig oder schmeckte nach Moor. Aber es gab ja genügend Regen.

Sie wanderte ein wenig herum und betrachtete kritisch ihr Heim von allen Seiten. Es war ein ehemaliges Bauernhaus; die eine Hälfte war eingestürzt und halbverfallen, jedoch die andere Hälfte noch gut erhalten und so instand gesetzt, dass man darin wohnen konnte, ohne befürchten zu müssen, plötzlich verschüttet zu werden. Die Wände bestanden aus Grassoden und Lehm. Für sie beide bot das Haus genügend Platz mit einer Küche und der Döns, der Wohnstube; in der Wand dazwischen waren zwei Schrankbetten eingebaut. Der offene Herd in der Küche war mit dem Bilegger, einem gemauerten Ofen, verbunden, der so gleichzeitig die Döns mitbeheizte und zudem vom Rauch freihielt. Nein, da konnte der Wind so kalt blasen, wie er wollte, drinnen blieb es immer gemütlich warm! Aber dieser einsame Ort ...!

Warum es Hauke ausgerechnet hierher verschlagen hatte, blieb sein Geheimnis. Diese seltsame Behausung war zwar deutlich komfortabler als eine Kate, wie sie die Salzsieder und Feldarbeiter bewohnten, aber für ihren Geschmack wohnten sie viel zu abgeschieden. Wenn sie den Kopf reckte, konnte sie den viereckigen, weithin sichtbaren Turm der alten Kirche St. Salvator sehen. Er war das Seezeichen der Pellwormharde und diente als Zufluchtsort.
Einst sollte dort der gottlose Seeräuber Cort Wiederich mit seinen Kumpanen gehaust und die Strandinger in Angst und Schrecken versetzt haben. Lorena stieß verächtlich die Luft aus. Seeräuber, pah! Raubgefährlich sollen die sein? Wer sind die schon? Der Einzige, der hier etwas raubte, war der Blanke Hans, und zwar Land und Leben.

Heute aber war ein wunderschöner Tag mit mildem Sonnenschein; ein warmer Wind fächelte sanft über das hohe Gras, das sich bis zum begrünten Deich erstreckte. Ein lieblicher Anblick, der sie mit vielem versöhnte. Wenn bloß Hauke umgänglicher wäre! Und sich die Strandinger offener zeigten!

„Lyka!"
Kaum war sein Ruf verhallt, kam Hauke auch schon herbeigestapft. Mit einem ziemlich finsteren Gesicht.

Lorena erschrak. „Was ist los?", wagte sie zu fragen.

Er gab ein Knurren von sich. „Meine Knochen. Das Ziehen ist schlimmer als sonst. Und es saust so hell in der Luft – hörst du's nicht?"

Sie legte den Kopf schief und lauschte. Es stimmte. Irgendwie klang der Wind anders. Oder sie täuschte sich, und es war das Blut, das in ihren Ohren rauschte. „Soll ich auf die Deichkrone steigen? Vielleicht ist dann mehr zu sehen", bot sie sich an.

„Nicht nötig. Schau." Er stieß den Zeigefinger in den Himmel.

Sie blickte hoch. Möwen. Ein ganzer Schwarm ... Und noch einer.

„Sie fliehen das Meer", murmelte er finster.

Lorena beschattete die Augen mit der Hand. Tatsächlich! Sie alle flogen ins Landesinnere, von der See weg. Das war ungewöhnlich. An einem solch schönen Tag wie diesen pflegten sie sonst dicht übers Wasser zu fliegen, um nach Fischen zu schnappen.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt