Gestrandet

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Zitternd kam das Mädchen wieder zu sich, in nach Fisch riechende Decken gehüllt. Ihre Kehle brannte von dem verschluckten Salzwasser wie Feuer. Eine raue Männerhand reichte ihr einen Becher mit einer dampfenden, nach Kräutern duftenden Flüssigkeit. Dankbar trank sie in großen Schlucken, wobei sie den Fremden im Auge behielt. Einen wie ihn hatte sie noch nie gesehen.

Er war noch nicht alt, dennoch hatten sich bereits tausend Fältchen in seine wettergegerbte braune Haut gegraben, das nackenlange Haar war rotblond mit vielen grauen Strähnen, ebenso sein halblanger krauser Bart. Seine große knorrige Gestalt war kräftig, und er hielt den Kopf geduckt, als müsste er ständig gegen einen unsichtbaren Wind ankämpfen. Das Interessanteste an ihm aber waren die Augen: Von einem hellen Blau-Grau, huschten sie wie flinke Mäuse hierhin und dorthin, schienen überall und nirgends zu verweilen.

Sie wusste noch nicht, dass dies eine Besonderheit bei ihm war. Aufgrund jahrelanger Übung waren seine Augen in der Lage, mehrere Dinge gleichzeitig zu erfassen, für jemanden wie ihn eine überlebenswichtige Eigenschaft. Sein Name war Hauke Eissen, und er gehörte zu den besten Schlickläufern der Uthlande, wie das nordfriesische Inselreich zwischen dem Festland und dem Meer genannt wurde. Und daheim war er auf der Insel Strand, die zusammen mit Amrum, Föhr, Sylt und ein paar Halligen die Reste einer einstmals großen Marsch- und Moorlandschaft bildeten, die vielerlei Sturmfluten gnädig übriggelassen hatten.

Aber wie lange würde das noch so bleiben? Seit der verheerenden Marcellusflut von 1362, der „Groten Mandränke", bot seine Heimatinsel fast genau in der Mitte dem gefräßigen Meer eine offene Flanke, notdürftig durch Deiche abgesichert, die ständig überwacht und ausgebessert werden mussten. Dabei wurden selbst Menschenopfer nicht gescheut, ging es doch um das Wohl und Wehe aller. Erst der Deich, dann das Land und dann Gott und die Menschen, so lautete das eherne Gesetz der Uthlande. Der Blanke Hans, wie die wilde Nordsee auch genannt wurde, schlief nie.


Hauke betrachtete das Mädchen eingehend. Hatte er das Richtige getan? Oder hätte er sie lieber gleich erschlagen sollen?

Das Leben auf den Inseln war nichts für zarte Gemüter, und wenn man nicht aufpasste, hatte die Mordsee flugs alles wieder genommen, was man je besessen hatte. Es löschte einen einfach aus. Er aber, Hauke, einst Bauer und nun Schlickläufer, Tuulgräber, Lotse und Botengänger, wollte sich nicht auslöschen lassen und gedachte, sich die weitere Zukunft zu sichern. Diesmal würde er seine sonstige Vorsicht vergessen und der sonderbaren Dirn mit den furchtlosen Augen beibringen, wie man überlebte. Zusammen war man stärker. Mit jedem Tag fühlte er die Last der Jahre schwerer an seinen Knochen ziehen und zerren, als würde ihn der Schlick aus Rache, weil er ihn täglich überlistete, allmählich einsaugen, bis er erstickte.

Aber jetzt hatte er sie gefunden, die einzige Überlebende aus diesem furchtbaren Sturm, der in seiner Welt nichts Ungewöhnliches darstellte. Strandgut, das niemandem gehörte. Gott hatte den Strand gesegnet, und daher gehörte sie jetzt ihm.

Ihm allein.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Where stories live. Discover now