Gegenwind

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Die Wellen verrieten den Wind. Mehr und mehr verstand Lorena ihre Sprache; sie fand es spannend, mitzuverfolgen, wie unterschiedlich das Schiff reagierte. Zwar zeigten auch die wehenden Bänder, die zum Losmachen und Reffen auf dem Segeltuch angebracht waren, Windrichtung und –stärke an, doch darauf wollte sie sich lieber nicht verlassen. "Du musst möglichst alles zusammen beachten – die Luft, die Wolken, die Fließrichtung des Wassers und wie es sich bewegt", hatte Hauke ihr eingeschärft. Seltsam, sie fühlte sich ihm so nah ... fast, als würde er neben ihr stehen und Ausschau halten ...

Es oblag den Steuerleuten, die Wetterzeichen zu überwachen, aber sie wollte in der Übung bleiben. So nutzte sie die Zeit, das Meer zu beobachten, während sie vor der Reling die Decksplanken fegte. Auf dem Ozean wird der blanke Hans ein anderes Gesicht zeigen, und ich will es rechtzeitig erkennen. Ich habe die Zeelandia vor dem Stranden gerettet, sie soll nicht im Sturm untergehen! Ein Schiffbruch reicht mir.

Allein der Gedanke an Schiffbruch genügte. Schlagartig flackerten die alten Erinnerungen auf – das Zucken der Blitze, Wellenberge, zerborstene Planken und sie, mutterseelenallein in der tosenden See ... Sie zitterte, schüttelte sich, um die inneren Bilder loszuwerden, und konzentrierte sich auf die endlose Wasserfläche, sah dem Auf und Ab der Wellen zu, bis sie wieder klar denken konnte. Da fiel ihr auf, dass die Wogen quer zum Schiff liefen und Schaumkämme trugen, vereinzelt flog sogar Gischt. Die Fahrt der Zeelandia verlangsamte sich immer mehr, Wind und Wellen wirkten wie eine Barriere. Das war gar nicht gut! Sie zögerte, ihren Platz an der Reling zu verlassen, wartete ...

„Alle Mann an Deck! Klar zur Wende!", dröhnte Thorssons Stimme von achtern. Umgehend wiederholten die Steuerleute den Befehl, der Quartiermeister hastete zur Luke.

Ich habe die Sprache der Wellen richtig gedeutet! triumphierte sie im Stillen. Sie hielt sich bereit. Gleich würde etwas passieren. Alle Mann" – das betraf auch jene, die sich gerade zur Ruhe begeben hatten.

Schon in der nächsten Minute wimmelte es von Seeleuten, und nach einem weiteren Kommando stürzten sie sich auf die Nagelbänke wie ein Bienenschwarm. Rasch gesellten sich Lorena und ihre Freunde hinzu und stellten sich hintereinander auf.

Wie immer hielt der Hochbootsmann das Tau als Erster gepackt und wartete auf Befehle. Seine finstere Miene verhieß nichts Gutes, es schien in ihm zu brodeln. Inzwischen kannte Lorena seinen Namen: er hieß Cornelis Veen, und als Obermatrose gehörte er zu den mittleren Offizieren. Wer seine Anweisungen nicht augenblicklich befolgte, hatte nichts zu lachen.

„Ist klar!", schrie er in Richtung Achterdeck. Ein kurzer Ruf vom Rudergänger, und „Hauul!!", donnerte Cornelis ...

- „Ruck!!", röhrten die Matrosen und zogen und zogen ... ohne nur einmal innezuhalten oder Atem zu schöpfen.

„Ruck – ruck – ruck" ...

Sie durften nicht nachlassen, der Bug musste zügig durch den Wind, sonst fehlte der Antrieb und sie kamen nicht mehr von der Stelle.

Es missglückte. Sie waren nicht schnell genug gewesen.

Cornelis' Wutschrei zerriss die Luft. Niemand wagte auch nur die kleinste Bewegung, alle verharrten wie in Blei gegossen. Nun galt es, erneut den richtigen Moment abzupassen.

Warten ... warten ... endlich schallte Thorssons Befehl: „Andere Seite! JETZT", und der Kampf mit dem störrischen Wind begann von neuem, mit gesteigerter Geschwindigkeit, Inbrunst und wildem Gebrüll.

Ziehen ... ziehen ... ziehen ...

Diesmal gelang es!

Die Segel schwangen auf Steuerbord um, fingen den Wind ein, blähten sich, die Zeelandia drehte und gewann an Fahrt. Die Männer jubelten aus heiseren Kehlen „Hurra!", klopften sich gegenseitig auf die Schultern – dann gellte ein spitzer Schrei! Alle verstummten.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Where stories live. Discover now