Der Gast

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Aufgeregt rutschte sie auf ihrem Sitz herum, saugte alles in sich auf, was sie erblickte. Hier war sie noch nie gewesen. Vom Strand kannte sie nur die Pellwormharde mit Westerwolt, dem nächsten größeren Dorf, ansonsten war sie nur bis zu Brodersens Haus gekommen, hatte die Torfladung abgeliefert und war auf demselben Weg wieder zurückgefahren, alles immer hübsch unter Haukes Aufsicht. Er hatte sie gefangen gehalten wie eine Sklavin, sie war sein Strandgut, das zu seinem Gutdünken angespült worden war, wie ein Ding, eine Planke etwa, was er nach Belieben nutzen konnte.

Aber eines Tages, und der wird nicht mehr ferne sein, bin ich fort, schwor sie sich im Stillen.

Sie fuhren direkt auf den Deich zu. Dieser bildete nur der äußere Teil einer ganzen Reihe von Deichen, die das Innere der Insel durchzogen; eine Folge des Zusammenschlusses von Bauernhöfen, die mitsamt den Äckern von einem eigenen Deichring umgeben waren. Das derart geschützte Land nannte man Koog.

Wie ein grünbewachsener Wall ragte der Deich zwischen Land und Meer empor. Davor standen die Strandinger heftig miteinander diskutierend zusammen, dabei machten sie teils wütende, teils verzweifelte Gesichter.

Hart zog Hauke die Zügel an. Das Pferd wieherte und scheute, wobei der Wagen heftig schwankte.

Zornig hielt sich Lorena an der Bank fest. Herrje! Ging das nicht ein bisschen sanfter? Ohne sie weiter zu beachten, stieg er ab und gesellte sich der Gruppe dazu. Nach einer Weile begann er sich einzumischen, wechselte ein paar Worte, dann sprach er allein. Offenbar war das, was er anbrachte, sehr bedenkenswert.

Unschlüssig verharrte Lorena. Sollte sie ihm folgen? Womöglich würde man sich durch ihre Anwesenheit gestört fühlen. Da gewahrte sie, dass er ihr zuwinkte. Sie gehorchte und verließ den Wagen. Beim Näherkommen verstand sie auch den Grund für die allgemeine Aufregung. Am Fuß des Deiches gab es einen offenen Bruch, durch den das Wasser strömte. Wie fatal – das war wie eine offene Wunde im Leib der Insel. Kein Wunder, dass die Männer solche Weltuntergangsgesichter schnitten!

Sie grüßte hierhin und dorthin, man nickte ihr kurz zu und versank in nachdenklichem Schweigen. Anscheinend war alles gesagt, nun wurde fieberhaft nach Lösungen gegrübelt. Ein Friese machte nicht viele Worte. Was sich demnächst tat, würde man binnen kurzer Zeit erleben.

Hauke nahm sie zur Seite.  Mit großer Geste wies er auf das gurgelnde Wasser, das den Untergrund mit sich riss und immer weiter fortspülte. Wenn seine Kraft erlahmt war, würde es als abgrundtiefer Teich, einer Wehle, enden.
In solchen Wehlen werden Töchter von ihren eigenen Vätern ertränkt, schoss es Lorena durch den Kopf. Etwa, weil sie ihre Ehre verloren haben. Eine weitere uralte Sitte auf Strand.

„Schau. Das ist es, was ich meine", sagte Hauke. „Es ist die alte Stelle, mit der ich mich schon früher abgeplagt hatte. Siehst du Tjark dort in der Gruppe? Gerade spricht er mit dem Deichgrafen. Der Bruch muss so schnell wie möglich gestopft werden, dafür muss Tjark als Besitzer sorgen, sonst geht mit jeder Tide mehr Land verloren, und am Ende läuft das Wasser in den Koog und die Leute ersaufen darin wie die Mäuse in einer Wanne! Wenn die Reparatur nicht gelingt, müssen sie aufgeben und mit Sack und Pack in den ungefährdeten Bupheveringkoog ziehen. – Aber ich wollte dir eigentlich etwas anderes zeigen ... komm'!"

Sie stiegen die Böschung hinauf auf die Deichkrone. Lorena betrachte die Bucht unten, zur Rechten lag die Pellwormharde, zur Linken die Edomsharde, die erkennbar karger und mooriger war.

„Da drunten ist die Rungholtbucht." Haukes Stimme klang belegt. „Das Grab einer berühmten Handelsstadt. Die Einwohner von Rungholt waren glücklich und wohlhabend, viele Schiffe von auswärts ankerten einst hier. Aber das machte den Blanken Hans neidisch, im Jahre 1362 rächte er sich mit der großen Marcellusflut. Rungholt ging unter und nahm an die Hunderttausend Menschenleben mit. Nun rollen die Meereswogen darüber hin, bisweilen gibt die Ebbe Reste frei – den Rand eines Brunnens, Ringmauern eines ehemaligen Hofes. Nach einer alten Sage sollen manchmal die Glocken von Rungholt läuten, nämlich dann, wenn eine fürchterliche Flut, eine Katastrophe droht."

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Where stories live. Discover now