Der Geist

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Niemand war über Bord gegangen oder hatte sich ernsthaft verletzt, dennoch trübte sich bei allen die Stimmung, als hätte die Trostlosigkeit des ewig grauen Himmels gleichsam die Gemüter erfasst. Ein fahles Gespinst schien die äußere wie die innere Welt zu bedecken wie jahrhundertealter Staub.

Nur wenige Matrosen hielten sich während ihrer Freiwache an Deck auf und standen zusammen, um zu schwatzen; die meisten nutzten die kostbaren Mußestunden zum Schlafen.

Lorena sah sie miteinander flüstern, die Mienen bedrückt, die Blicke verstohlen, als hielten sie Kriegsrat. Ihr Argwohn war geweckt. Was ging da vor sich? Was hatte das Getuschel zu bedeuten? Bis jetzt war die Reise ein einziger Kampf gewesen, noch mehr Ärger konnten sie wirklich nicht gebrauchen, ihnen stand buchstäblich das Wasser bis zum Hals.

Sie beschloss, dem Rätsel auf dem Grund zu gehen. Allerdings konnte sie unmöglich direkt nachfragen, entweder erhielt sie als Antwort nur eisiges Schweigen oder handelte sich eine Backpfeife ein. Kurzentschlossen schnappte sie sich Pütz und Scheuerstein, schlich sich an die Gruppe heran und tat beschäftigt, während sie die Männer aus den Augenwinkeln beobachtete und die Ohren spitzte.

Soeben beklagte sich einer, er könne nicht schlafen. „Und das, obwohl ich hundemüde bin. Aber etwas stimmt hier nicht!" - „Auf dem Weg nach Westindien sind schon viele gute Männer draufgegangen", bemerkte ein zweiter. - „Irgendwer hat den Klabautermann verscheucht", murrte der dritte, „deshalb ist dieser mörderische Wind immer noch da und wir drehen uns auf ewig im Kreis wie die Verdammten der Meere!"

Dafür bekam er viel Beifall. „Richtig!" - „Wie wahr!" - „Denke auch so!" Derart ermutigt, setzte er zu einer weiteren Rede an, schaute sich aber vorher noch misstrauisch um - und entdeckte sie! Seine Augen weiteten sich. „He, du!", rief er.

Um ein Haar hätte sie den Scheuerstein fallen lassen. Sie war ertappt! Rasch versuchte sie, ihre Unsicherheit mit einem Grinsen wegzulächeln.

Daraufhin reagierte er mit einem unwilligen Kopfschütteln und winkte sie heran. „Du störst mit deinem Rumgekratze. Belauschst uns wohl, eh? Was hast du mitgekriegt?"

Sie gab sich arglos: „Nicht viel ... nur ‚Klabautermann' und ‚Verdammte'...!"

„Soso. Und was sagst du dazu, Timo? Du glaubst nicht dran, was?" In seinem Tonfall lag etwas Lauerndes.

Das gefiel ihr ganz und gar nicht! So antwortete sie ausweichend: „Falls du den Klabautermann meinst ...?"

An dieser Stelle nickte er heftig.

„... so weiß ich über ihn nur wenig", sprach sie weiter, „ich fahre zum ersten Mal zur See. Auf Amrum und Föhr ist er dem Namen nach bekannt, mehr aber auch nicht."

Er rümpfte die Nase. „Hast du denn noch nie in der Nacht das Klopfen an den Schiffswänden gehört?"

„Doch, schon. Aber das sind doch nur die Wellen."

„Wellen, hahaha!" Sein Gelächter klang wie das Krächzen eines Raben, was gut zu seiner schnabelartigen Nase passte. „Nein, nein, Wellenschläge klingen anders. Du hast keine Ahnung von der See und ihren Geheimnissen!"

Sie hob fragend die Schultern. „Mag sein. Aber vielleicht erklärst du es mir?"

Da glitt ein Leuchten über sein Gesicht, das im Gegensatz zu seiner straffen, beweglichen Gestalt vor der Zeit gealtert schien. „Gut. Dann pass mal auf ..." Mit lebhaften Gesten und beschwörender Stimme begann er vom Klabautermann zu erzählen, einem guten Geist, der Schiff und Besatzung vor Stürmen, gefährlichen Strudeln und Klippen beschützte und gerne allerlei Späßchen trieb.

„Man hört ihn herumpoltern, sieht ihn aber nicht. Er achtet streng auf Ordnung, und Gnade demjenigen, der die Sanduhr vorzeitig umdreht, um die Wache zu verkürzen! Den verprügelt er windelweich! Und sei gewarnt: Verleugne niemals den Klabautermann, sonst verlässt er dich, und mit ihm geht auch das Glück. Du wirst -"

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt