Sehnsucht

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Lorena stieß die Haustür weit auf und trat – oder vielmehr tastete sich – hinaus. Seit Stunden hielt der Seenebel die Welt im dichten Dunst verhüllt, verschluckte jedes Geräusch, nur ein dumpfes Brausen verriet die Allgegenwärtigkeit des Meeres. In Ufernähe aber begann sich der Nebel endlich zu verflüchtigen, zerteilten sich, und die vertrauten Geräusche kehrten zurück.

Angestrengt hielt sie nach Janko Ausschau, der für heute seinen Besuch angekündigt hatte. Um ihn machte sie sich keine Sorgen. Er war erfahren und kannte sich bestens mit den Wetterbedingungen aus. Er hatte gewiss die ungewöhnlich feuchte Luft, die stets den Seenebel ankündigte, rechtzeitig bemerkt und verharrte irgendwo an Ort und Stelle, um nicht in die Irre und damit in den Tod zu gehen.

Die Spuren des vergangenen Winters waren auf der Hallig noch gut zu erkennen; immer noch bedeckte ein schwarz-grauer Schlamm große Flächen. Hier und da streckten einige Grashalme hoffnungsvoll die Spitzen heraus.

Genau wie ich, dachte Lorena. Ich bin dieses ewige Grau und das Windgebrause leid.

Ohne den Deich war eine Hallig dem Wohl und Wehe der Elemente unmittelbar ausgesetzt. Deshalb war das Hallighaus noch stabiler konstruiert als die Bauten auf den Inseln. Es stand auf einer viel höheren Warft, gestützt auf besonders starke Baumstämme, die man als Pfeiler tief in den Halligboden eingerammt hatte, und der Dachboden, von dem allein die Rettung abhing, war noch weiter ausgebaut.

Diesmal hatten die Stürme keine Verwüstungen angerichtet, stattdessen hatten Springfluten den Meeresgrund aufgewühlt und die Warft mit ihrem trüben Wasser überschwemmt; bis an die Fenster war die See gestiegen, meterhoch war die Gischt gespritzt, so dass es aussah, als nagten riesige Zähne an der Hallig. Ja, hungrig war die Nordsee, und so manche Hallig wurde stetig kleiner. Wann würde Süderoog endgültig in ihrem gierigen Schlund verschwunden sein?

Ansonsten waren die Tage still dahingeflossen, bei Einbruch der Dunkelheit war es unheimlich draußen vor dem Haus, ringsum pechschwarze Finsternis, nur dann und wann unterbrochen von einem Aufleuchten der Gischt oder einer Spiegelung des Mondes im Wasser. Wenn er denn einmal leuchtete ...

Noch nie hatte sie den Frühling so sehr herbeigesehnt. Wollte sie wirklich für immer auf einer Hallig leben? Oder auf einer der Inseln? Zuerst hatten die Freunde sie mit ihrer Schwärmerei angesteckt, dann war dieser geheimnisvolle Rubin aufgetaucht – seitdem hielt sie das Fernweh in den Krallen und plagte sie mit Träumen über azurblauem Wasser, Palmen im Wind und seidiger Luft. Ihre Sehnsucht wie auch ihre Zweifel waren im gleichen Maße gewachsen. Die ständige Bedrohung durch den Blanken Hans nahmen die Uthlander gleichmütig hin, weil er zu ihrer Heimat gehörte wie der Sturm zur unberechenbaren Nordsee. Aber sie konnte und wollte sich nicht daran gewöhnen, sie war keine Einheimische, das bisher Erlebte reichte ihr. Ewig vor der nächsten Sturmflut zittern? Jedes Mal bei Vollmond auf der Hut sein? Er zog die Wasser an sich, die zu einer tückischen Springflut anschwellen konnten – vereinigt mit einem Orkan, bedeutete das allerhöchste Gefahr. Immer wieder Hab und Gut oder gar die Familie verlieren, und zuletzt in tiefe Trauer versinken wie Hauke? Oder um Eilien und Iwe bangen? Wollte sie noch als alte Frau nach Strandtrümmern suchen? Zwischen aufgeschwemmten Leichen nach Verwertbarem fischen? Ihr Leben lang darauf hoffen, dass Haukes düstere Ahnung von einer zweiten Marcellusflut nicht in Erfüllung ging? Jemand wie er sagt es nicht nur so dahin, überlegte sie. Soll ich wenigstens Eilien warnen?

Doch nun war sie am Steg angelangt und versuchte, in den Nebelfetzen etwas zu erkennen, irgendeine Bewegung zu erhaschen ... mit einem Mal brachen Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke, lösten den Dunst völlig auf. Und wirklich – draußen auf dem Meer leuchtete ein gelber Schopf auf.

Sie lächelte. Endlich! Obwohl sie für ihn nur ein Punkt auf einem schwimmenden Hügel sein musste, entdeckte er sie ebenfalls, und winkte mit beiden Armen.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt