Eilien

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An einem sonnigen, fast windstillen Frühlingstag hatte Lorena Torf geladen, den Hauke am Morgen zuvor gestochen hatte, und sollte ihn zu Tjark bringen. Wie Hauke es gelehrt hatte, behielt sie ihre Umgebung ständig im Blick und achtete auf die geringste Kleinigkeit. So spürte sie sofort, wie sich plötzlich die Luft veränderte. Sie wurde merklich kühler, roch anders ... feucht. Zu feucht. Sie ließ die Ruder fahren und überlegte. Sollte sie umkehren? Dafür war der Weg zu weit. Um Hauke brauchte sie sich nicht zu sorgen, notfalls konnte er sich nach Hooge retten. Ganz in ihrer Nähe musste sich jetzt Süderoog befinden. Sie zögerte. Dort wohnte aber der Strandvogt, sollte sie es wagen? Ich habe keine Wahl ... hier draußen riecht es nach Tod.

Sie tauchte die Ruder tief ins Wasser und lehnte sich mit Schwung zurück. Das Boot schoss durch die Wellen auf die Hallig zu.

Fast wäre es zu spät gewesen.

Am Horizont wallte ein undurchdringlicher grauer Dunst hoch auf wie eine Wand und kroch schnell näher.

Der gefürchtete Seenebel!

Sie ruderte noch schneller, vom Nebel immer dichtauf verfolgt, als haschten Geisterfinger nach ihr. Mit letzter Kraft erreichte sie die Hallig, zurrte das Flachboot an der Mole fest und eilte zu der Warft hinauf; ihre Beine sah sie in der dicken Suppe schon nicht mehr.

Schemenhaft erkannte sie die Umrisse von etwa drei Häusern, entschied sich spontan für das in der Mitte und klopfte an. Als sei sie erwartet worden, öffnete sich die Tür. Lorena wich unwillkürlich zurück, doch auf der Schwelle stand nur eine zartgliedrige junge Frau im weiß-blauen Leinenkleid und winkte sie herein.

Lorena beeilte sich zu erklären: „Der Nebel ...!"

„Ja, den habe ich gerade auch gesehen", sagte die Frau und schloss die Tür hinter sich. „Habe mir schon gedacht, dass da draußen jemand in Not sein könnte. Wie gut, dass du es rechtzeitig bis zu uns geschafft hast! Sei also herzlich willkommen! Wie heißt du?"

Bei dieser netten Begrüßung wurde es Lorena ganz warm ums Herz und kam ins Stottern. „Lore... äh, Lyka. Lyka Eissen!"

Schwungvolle blonde Augenbrauen schossen fragend in die Höhe. „Lyka ...?! Dann bist du das fremde Mädchen, das bei Hauke wohnt?"

„Ja, genau, die bin ich!", gab Lorena ein wenig schnippisch zurück. Sie war ärgerlich und traurig zugleich. Fremde! Ich lebe seit über zehn Jahren hier und bin für sie immer noch das ‚fremde Mädchen'!!

Aber die Frau sah nicht danach aus, als wenn sie irgendwelche Vorbehalte hätte. Ihr Blick blieb unverändert freundlich. „Das freut mich. Ich bin Eilien, die Tochter des Iwe Mannis!"

Am liebsten hätte Lorena auf der Stelle kehrtgemacht. Oh weh, da hatte sie ja das richtige Haus erwischt! Die Tochter des Strandvogts persönlich! Das konnte für Hauke gefährlich werden, und sie würde wieder mal seinen ganzen Unmut wegen ihrer Dummheit zu spüren bekommen. Was nun?

Eilien schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Du bist sicher hungrig! Gerne möchte ich dir etwas anbieten, komm' mit in die Küche!", sagte sie und ging voraus.

Überrascht folgte Lorena ihr durch den schmalen Flur. Das hatte sie nicht erwartet! Sicher, bei einem solchen Wetter würde ihr kein Strandinger die Tür weisen, aber es war etwas anderes, gleich zum Essen eingeladen zu werden als bloß Obdach gewährt zu bekommen. Eilien schien nicht so verschlossen wie die anderen zu sein. Und sie war nicht bloß höflich - nein, liebenswürdig sogar.

Die Tür zur Wohnstube stand offen; rasch warf sie einen Blick hinein. Wann hatte sie schon mal die Gelegenheit, sich in einem richtigen Haus aufzuhalten? Sie sah zwei große Schränke, eine metallbeschlagene Truhe. Ein Regal mit kupfernen Tellern. Gepolsterte, schwere Stühle ... ein Tischchen ... die holzvertäfelten Wände blaugrün angestrichen. Auffallend waren die Ordnung und die Reinlichkeit, die hier überall herrschten. Wie blank die geweißten Dielen gescheuert waren! Nicht, dass es bei ihnen daheim schmutzig war - aber es war nicht so ... so poliert wie hier. Bestimmt verirrte sich in diesem Haus nicht eine einzige Staubflocke.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Where stories live. Discover now