Der Luftgeist

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Im sanften Licht der Nachmittagssonne schimmerte die weite Wattfläche silbergrau, manchmal sogar golden. Den possierlichen Seehunden, die auf der Sandbank dösten, schenkte Lorena ausnahmsweise keinen Blick.

Die Zeit rannte ihr davon.

Dabei war sie heute Morgen pünktlich vor Ablaufen der Flut losgegangen und zügig durch das Niedrigwasser bis zur Hallig Hooge gestapft, wo Tjark Brodersens Schwager wohnte, bei dem sie Briefe abliefern sollte. Mit zwanzig Warften war die Hallig relativ groß, und sie musste sich erst durchfragen, bis sie das richtige Haus gefunden hatte.

Zum Dank war sie zum Mittagessen eingeladen worden. Man war ungewohnt freundlich und offen zu ihr gewesen, über die Gespräche war es schnell Nachmittag geworden – für eine Rückkehr fast zu spät. Nur eine geübte Schlickläuferin wie sie konnte es noch wagen, sich auf den Heimweg zu machen. Sie hatte die Bitte abgelehnt, über Nacht zu bleiben. Lieber nahm sie es mit der Nordsee auf, als es auf einen Streit mit Hauke ankommen zu lassen.

Wenn sie zwischendurch eine Strecke ohne Pause lief, würde sie es gerade noch vor dem Einsetzen der Flut nach Hause schaffen. Allerdings lagen noch zwei verschlickte Priele vor ihr, um die sie einen großen Bogen machen musste, was zusätzlich Zeit kostete. Aber sie fühlte sich bestens in Form und ausgeruht. Der Wattboden war herrlich von der Sonne durchgewärmt, dazu hatte sie den Wind im Rücken. Damit würde sie fast fliegen!

So flitzte sie dahin, dabei immer den Wasserstand in den Prielen im Auge behaltend, wie es ihr Hauke eingeschärft hatte. Das Wattgebiet vor der Pellwormharde war tückisch, sie durfte sich keine Unachtsamkeit erlauben.

Schmatz ... schmatz ... knatschte der Schlamm unter ihren Füßen, hoch über ihrem Kopf kreischten die Möwen, wie um sie in ihrem Wettlauf mit der nahenden Flut anzufeuern. Hier und da übersprang sie verdächtig aussehende schlüpfrige Stellen, sauste weiter ...

Da geschah es. Plötzlich sank sie mit dem rechten Bein ein!

Nicht schon wieder!!

Und diesmal war kein Hauke da, der sie hinausziehen würde.

SCHMATZ!

... sackte sie immer weiter ein ... fast hungrig saugte sich der Schlick an ihrer Wade fest ... doch da kam sie wieder auf festen Grund -

... und ein messerscharfer Schmerz stach durch ihren Fuß!

Sie schrie auf. Schrill und hoch gellte ihr Schmerzensschrei über die Wattfelder.

Tut das weh! Sie japste nach Luft. Langsam ließ der Schmerz etwas nach.

Was war das nur, konnte das gewesen sein? Normalerweise war sie nicht mehr empfindlich, dank der Hornschicht an den Füßen konnte sie ohne größere Verletzungen mitten durch ein Muschelfeld laufen. Anscheinend hatte sie nun ihren Meister gefunden. War jetzt alles zu Ende?

Behutsam verlagerte sie ihr Gewicht auf das andere Bein, hoffend, dass sie nicht auch noch damit einsackte. Hier war der Boden weich, aber genügend fest. Sie bohrte den Fuß bis zum Knöchel in den Schlamm, damit sie einen besseren Stand hatte. Mit beiden Händen packte sie das feststeckende Bein, umschlang es oberhalb des Knies und zog an ... gleichzeitig bewegte, drehte sie das Bein in dem Schlick, der sich so allmählich lockerte, und zog es mit einem kurzen, kräftigen Ruck ganz heraus.

Geschafft!

Schwer atmend blieb sie erstmal stehen und rührte sich nicht von der Stelle. Der Fuß zwickte gehörig. Aber es gab Dringenderes.

Zuallererst musste sie sich vergewissern, ob sie in ein einzelnes Schlickloch oder gar in ein Schlickfeld geraten war. Falls ja, musste es sich vor Kurzem erst gebildet haben, keine Seltenheit bei dem ewigen Auf und Ab der Gezeiten. Wie ärgerlich, dass sie diesmal den langen Stab, mit dem sie über tiefe Priele setzte, daheim gelassen hatte. Das missgünstige Schicksal hatte im richtigen Moment zugeschlagen.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Where stories live. Discover now