Abfahrt

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Der Kniephafen, in dem tiefen Priel zwischen Amrum und der großen Sandbank Kniepsand gelegen, bot selbst großen Handelsschiffen einen Ankerplatz und sicheren Schutz vor dem Winter. Unweit von diesem Naturhafen, in Norddorf, hatten Lorena und ihre Freunde im Haus eines Heuerbaasböse Zungen nannten ihn Seelenverkäufer, übernachtet. Ein solcher Werber rekrutierte im Auftrag des Schippers die Seeleute und versorgte sie mit Kleidung, Bettzeug sowie einem Handgeld für Zusatzverpflegung. Er führte auch eine Liste aller Besatzungsmitglieder, die Musterrolle, und übergab sie vor der Abreise dem Schipper.

Ohne zu zögern, hatte Lorena die Spalten Name, Herkunft, Alter rasch ausgefüllt und mit Timo Lornsen unterschrieben. Dabei hatte sie allerdings ihr wahres Alter verschwiegen und sechzehn Jahre – die äußerste Altersgrenze für einen Moses - statt achtzehn angegeben. Sie vertraute darauf, dass sie mit ihrer schlanken, hochaufgeschossenen Gestalt und den kurzen Haaren als Junge durchging. Beim Anblick der noch leeren Rubrik Schicksal hatte sie ein wenig gefröstelt. Was würde dort am Ende der Fahrt stehen? „Abgemustert – verschollen – ertrunken – an der Küste entlaufen – Schiffbruch – gestorben"? Oder: „Beim Landgang verschollen"? Genau das war ja ihre Absicht: nämlich eines Tages einfach verlorenzugehen. Wie würde ihr Abenteuer enden?

Ihr wurde eine Monatsheuer von vier Gulden zugestanden, das war der niedrigste Anfängerlohn bei den Schiffsjungen; die Freunde verdienten als einfache Matrosen fast das Dreifache mehr. Nach der Rückkehr würde die Heuer vollständig ausgezahlt oder im Todesfall an die Erben entrichtet werden, somit hatte alles seine Ordnung und Richtigkeit.

Gegen Mittag verließen sie das Haus, schlugen den Weg zum Kniephafen ein und gingen den Kai hinunter bis zu den ankernden Schiffen. Lorena-Timo – diesmal „unrasiert" – hatte wie die Freunde den Seesack über die Schulter geworfen, einzig Ove hielt behutsam den bewussten Seesack mit der schlummernden Fenja in der Faust. Neugierig reckte Lorena den Hals, um einen ersten Blick auf ihr Schiff zu erhaschen. Von Sjard wusste sie bereits den Namen –Zeelandiaund weitere Einzelheiten, die das Bordleben betrafen. So war sie wenigstens nicht ahnungslos und konnte kaum Fehler machen. Alles Weitere würde sie während der Fahrt lernen müssen.

„Erkennst du jetzt den Unterschied zwischen einer Fleute und einer Pinasse?", fragte Sjard und zeigte auf zwei Schiffe, die längsseits hintereinander am Kai lagen. „Was hab' ich dir erzählt, na?"

Beinahe fachkundig musterte sie die Konturen und die Bauweise der beiden Dreimaster. Sie verstand genau, worauf er anspielte. Im Unterschied zur Fleute mit ihrem bauchigen Rumpf und dem rundem Heck war die Pinasse schmaler gebaut und mit einem zusätzlichen Halbdeck sowie einem Kanonendeck ausgestattet. Demnach war die Zeelandia ein bewaffnetes Handelsschiff, das kein Geleitschutz wie eine Fleute benötigte; notfalls konnte es sich selbst verteidigen. Am hohen, senkrechten Heck flatterte eine gelb-weiß-rot gestreifte Flagge. Im mittleren weißen Feld prangten die Buchstaben V-O-C, wobei das „V" im Vordergrund stand.

Lorena blieb stehen und kniff die Augen zusammen. „Das ist doch das Markenzeichen der Niederländischen Ostindien-Kompanie!"

Roluf nickte. „Ganz recht. Und die Farben gelb-weiß-rot stehen für Zeeland, eine niederländische Provinz."

„Und was hat der Buchstabe ‚M' über dem ‚V' zu bedeuten?"

„Da muss ich raten. Jede Kammer der VOC hat ihre eigene Flagge. Wahrscheinlich ist ‚M' das Kennzeichen für Middelburg, der Handelsstadt von Zeeland."

Sie hob die Brauen. „Aha – dann gehört unser Schiff also zur Kammer von Zeeland, daher der Name: Zeelandia. Es ist ein schönes Schiff, finde ich."

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Where stories live. Discover now