Kräftemessen

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In der folgenden Nacht blieb der Seegang weitgehend gemäßigt, so dass die Mannschaft endlich einmal ungestörte Ruhe finden und die jeweilige Wache sich damit begnügen konnte, einfach mal nur – Wache zu halten.

Schon halb im Schlaf, lauschte Lorena dem Sprechgesang „Auf der Back ist alles wohl, und die Laternen brennen ...", wobei das wohl in die Länge gezogen wurde. Offensichtlich hatte der Wachhabende besonders gute Laune. Sie lag auf ihrem Strohsack ausgestreckt, satt und zufrieden, den Kopf vom genossenen Branntwein angenehm benebelt, und ließ die Gedanken ein wenig wandern. Was für ein Tag! Zuerst das Gespräch über den mysteriösen Klabautermann ... dann die unverhoffte Arbeitspause, der köstliche Schmaus ... sie hob die Hand und schnupperte verzückt an den Fingern. Der Bratenduft war noch nicht verflogen.

„Auf der Back ist alles wooohl ...", ertönte es abermals. Das Weitere bekam sie nicht mehr mit. Die Augen fielen zu und sie versank in eine märchenhafte Welt, träumte von Wärme und einem herrlich blauen Himmel.

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Der Klabautermann blieb ihnen weiterhin gewogen. Noch immer blies der Wind aus der Gegenrichtung, dafür aber gleichmäßig und ohne die gefürchteten Böen. Zudem klarte es mehr und mehr auf, die Regenwolken verzogen sich. Thorsson wartete nicht länger und gab den Befehl, das Hauptsegel zu setzen.

Erneut sprangen die Toppgasten in die Takelage, diesmal mit frischem Elan. „Aber hopp, hopp, sonst fahren wir rückwärts und treffen auf die vermaledeite Sandbank vor Amrum", frotzelte einer beim aufentern. Er hatte seinen Humor noch nicht verloren. – „Hoffentlich weiß der Lange noch, wo sich die Schlickwatten befinden", bemerkte der Nachfolgende.

Lorena hatte seine Bemerkung aus nächster Nähe mitbekommen und lachte in sich hinein. Der Lange! – Sieh an, diese Episode haben sie nicht vergessen! Wie gut, dass ich rechtzeitig warnen konnte. Und Thorssons Reaktion darauf war auch zu spaßig gewesen! Bald aber vergingen ihr die lustigen Gedanken; sie musste höllisch aufpassen. Wiederholt rutschten ihre Hände vom Tau ab. Schließlich hielt sie an und inspizierte die Takelage genauer – Eis! In dieser Höhe waren die Wanten noch gefroren. Unschlüssig blickte sie nach oben. Sie war für den Ausguck eingeteilt und musste ins Krähennest. Ohne Wenn und Aber.

Vorsichtig kletterte sie weiter ... bei jedem Zugriff schnitt der Strick in die Haut, schon floss das Blut ... jetzt nur keinen falschen Tritt! Da behalf sie sich mit einem Trick, den sie bei den Toppgasten gesehen hatte: sie klammerte sich mit den Ellenbogen um die Taue und hangelte sich hoch. Auf diese Weise fand sie ausreichend Halt; als sie endlich oben stand, genoss sie es wie einen Sieg.

„Aye, ich übernehme", sagte sie zu dem anwesenden Matrosen, der sich daraufhin anschickte, das Krähennest zu verlassen. Sie richtete sich auf ihrem Beobachtungsposten ein und konzentrierte sich auf die Umgebung. Allmählich wurde sie mit Schiff, Meer und dem Horizont eins ...

Abgesehen von dem auffrischenden Wind, der ein ganz klein wenig die Richtung änderte, tat sich aber nicht viel. Gegen Mittag wurde sie abgelöst und durfte wieder abentern. Jetzt war das Eis endgültig geschmolzen, aber sie blieb lieber vorsichtig. Wozu sich beeilen? Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie wieder die Decksplanken unter den Füßen spürte. Sie verschnaufte, blies in die geschundenen Hände und tupfte sie behutsam mit einem Zipfel ihres Hemdes trocken. Dabei warf sie einen flüchtigen Blick übers Deck und entdeckte Roluf, der mit dem Bottelier auf und ab ging; beide waren in ein Gespräch vertieft. Nach einer Weile sah er auf und erblickte sie, lachte, hob den Arm und winkte ...

Sie winkte fröhlich zurück ...

Da geschah es.

Ein langgezogener Schrei -

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Donde viven las historias. Descúbrelo ahora