Schiffbruch

672 62 76
                                    

Obwohl es Tag war, schien es, als sei alles Licht verschluckt und die Welt nur noch ein trostloses Grau. Himmel und Wasser waren eins, dann und wann durch zuckende Blitze erhellt. Wasserberg um Wasserberg türmte sich auf und krachte über dem Schiff zusammen.

Die Segel zerfleddert, die Masten abgeknickt wie Strohhalme, taumelte es wie betrunken in der aufgewühlten See dahin. Es war schon zu Tode getroffen; in seiner linken Seite gähnte ein gezacktes Loch, durch das die hungrigen Wellen ins Innere schwappten. Auf dem Deck kämpfte der traurige Rest der Mannschaft verzweifelt ums Überleben, klammerte sich an den noch verbliebenen Holzstümpfen fest, die von der zerschlagenen Reling übriggeblieben waren, und hoffte wider besseres Wissen, dass sich das Schiff irgendwie und auf irgendeine Weise übers Wasser halten möge. Steuern ließ es sich nicht mehr, das Ruderblatt war zerbrochen und das Steuerrad drehte sich mit einer rasenden Schnelligkeit, als könne es nicht abwarten, die gesamte Besatzung geradewegs ins Jenseits zu befördern. Alle warteten nur darauf, dass die Fahrt jetzt und gleich für immer ein Ende nahm.

Nur ein schillernd grünes Augenpaar starrte trotzig dieses Höllenrad an, unentwegt, ohne auch nur einmal zu blinzeln, bis es tatsächlich für einen langen Moment in seinem wahnwitzigen Drehen innehielt. Es gehörte einem kleinen Mädchen, das an einem Mast festgebunden war und unerschrocken gegen den Sturm anschrie. Da schien selbst der Sturm verblüfft und ließ in seinem Brausen nach, die Wellen duckten sich fast erschrocken, die erschöpften Seeleute atmeten auf - doch dann setzte das Getöse mit unverminderter Gewalt wieder ein, heftiger als zuvor. Das Meer verwandelte sich in kochendem Schaum.

Da geschah es -

... eine Riesenwelle zerbrach das Schiff in zwei Teile, die wilden Strudel verschlangen Mann und Maus und spien einige Reste wieder aus. Wie zum Hohn tanzten die Planken auf dem Wasser, aus der brodelnden Tiefe schoss ein Mast hoch ... mit dem kleinen Mädchen obenauf, das immer noch angebunden war. 

Hustend und röchelnd kämpfte es ums Gleichgewicht, tauchte unter und kam wieder hoch, während der Mast wie von einer unsichtbaren Hand angetrieben, unerbittlich vorwärtsjagte, als galt es, einen Wettlauf zu gewinnen.

Den Wettlauf mit dem Tod.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt