Gefährliche Wattwelt

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„Lyka, pass auf ... mir nach!", rief Hauke plötzlich und riss sie aus ihrer Versunkenheit.

Willig trottete sie hinter ihm her. Sie wusste, auf Haukes Ortskenntnis konnte sie vertrauen. Im Wattenmeer herrschten besondere Gesetze, die man kennen musste, wollte man nicht jämmerlich umkommen. Hier draußen gab es gefährliche Fallen - wo man eben noch auf festem Boden trat, konnte man im nächsten Moment im weichen, zähen Brei bis zur Gänze einsinken. Sogar Schiffswracks waren in solchen Schlammlöchern schon nach einiger Zeit völlig verschwunden.

Das war der gefürchtete Schlickwatt, der sich über große Felder ausbreiten konnte. Hauke wusste genau, wo diese Flächen anfingen und wo sie endeten, kannte die ungefährlichen Wege, manchmal schmale Pfade nur, die sicher hindurchführten, sowie die Priele, in denen oft so starke Strömungen herrschten, dass sie die den Unkundigen fortspülten wie eine losgerissene Schiffsplanke. Und sie wusste, hier war sie völlig in seiner Hand.

Sein Verhalten gab ihr Rätsel auf. Schlicklaufen war selbst für ihn ein gefährliches Wagnis - wollte er sie umbringen? Aber falls er das wirklich vorgehabt hätte, wäre es schon längst geschehen.
Und wenn er genug von mir hat? grübelte sie. Er war vorgestern so wütend ... ich weiß nicht, was ich ihm getan habe!

Argwöhnisch verfolgte sie jede seiner Bewegungen. Er schritt zielstrebig aus, den Kopf nach rechts und links wendend, gelegentlich blähten sich seine Nasenflügel wie bei einem Tier, das Witterung aufnimmt. Mit einem Mal streifte sie sein Blick - zu ihrem Erstaunen war er wie tröstend, ja, sogar freundschaftlich, als wollte er ihr ein Gefühl von Sicherheit vermitteln.

Schlagartig beruhigte sie sich. Nein. Er will meinen Tod nicht. Er ist nicht heimtückisch, seinem Wort kann man vertrauen. Er will, dass ich ihm bei seiner Arbeit helfe ... und das werde ich auch tun, aber eines Tages ...

Eines schönen Tages würde sie weglaufen. Er wurde zunehmend giftiger, je älter er wurde. Das Zusammenleben war unerträglich geworden. Inzwischen reichten ein falsches Wort, ein falscher Ton, und sein Gesicht verfinsterte sich. „Du hast mir zu gehorchen, sonst nichts! Wer bist du schon? Nur eine hergelaufene Fremde!", pflegte er zu poltern. „Gewöhn' dir wenigstens unsere Art an, dann hast du's leichter!".

Also gut. Sie würde es ihm gleichtun und Schlickläuferin werden, dann konnte sie ihm bald davonlaufen. Sie brauchte nur abzuwarten, bis sie alles von ihm gelernt hatte, vor allem, wie man gefahrlos große Strecken über das Watt zurücklegte, dann konnte sie den Sprung zum Festland schaffen. Dort fand sie bestimmt bessere Möglichkeiten, sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Auf den Inseln brauchte sie erst gar nicht nachzufragen, dort war Hauke gut bekannt, man würde sie ungefragt wieder zu ihm zurückbringen.

Schon oft hatte sie sich den Kopf darüber zerbrochen, warum er sich wie ein Tyrann verhielt. Vielleicht mochte das mit seiner Vergangenheit zusammenhängen, sie wusste bis heute nichts darüber. Für ihn war sie nicht mehr als eine Magd, und mit einer solchen teilte man sein Leben nicht. Natürlich war sein Verhalten nicht der einzige Grund, weshalb sie ihn verlassen wollte. Bei den Inselbewohnern, den Strandingern, war sie bis heute „die Fremde" geblieben; immerhin begegnete man mit einer kühlen Freundlichkeit. Alles, was von außerhalb kam, war ein Grund zur Abwehr, eine große Gefahr für die eingeschworene Gemeinschaft von Strand. Niemand würde sie vermissen. Man würde vergessen, dass es sie je gegeben hatte.

Ein starker Geruch nach Salz und Meer, dazu der intensive Duft nach Schlick und Tang wehte sie an, als wollte er sie aus den trüben Gedanken aufwecken. Sie hob den Kopf und sog ihn tief ein. Augenblicklich wurde ihr Kopf frei, das Herz weit. Auch Hauke schien hier in seiner Welt förmlich aufzublühen. Er wirkte freier und zugänglicher als sonst. Das Schwere, Finstere, das ihn meist umgab, war wie fortgeblasen.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Where stories live. Discover now