Der Quartiermeister

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Sie hielt kurz inne. Das klang übel! Instinktiv sah sie sich nach einem Fluchtweg um, aber wohin sollte sie fliehen? Sei nicht so hasenherzig, redete sie sich Mut zu. Es geht nur um einen Kniefall.

Als sie an Ort und Stelle eintraf, sah sie einige Schiffsjungen wie auch Leichtmatrosen paarweise in drei Reihen knien, Scheuerstein, Eimer und Wischlappen griffbereit vor sich. Sie hatten die Hände auf die Oberschenkel gestützt und schienen auf weitere Anweisungen zu warten. Alle hielten den Blick nach vorn gerichtet, wo ein vierschrötiger grauhaariger Mann umherging und mit kritischer Miene die Bodenplanken begutachtete.

Ob das der Quartiermeister war? Sie kannte ihn mehr vom Hören als vom Sehen; er beherrschte sowohl das Deutsche als auch das Holländische gleichermaßen gut. Wenn er Befehle gab, wirkte es ähnlich einschüchternd wie das raue Bellen eines Wachhundes, was jedoch für seine Aufgabe – das Wecken der nächsten Schicht – von großem Vorteil war. Um todmüde Seeleute aus dem Schlummer zu holen und vom Strohsack zu scheuchen, half kein freundliches Bitten.

Als er zufällig hochsah, bemerkte er sie und winkte sie zu sich.

Sie gehorchte sofort. Sobald sie vor ihm stand, hielt sie den Kopf gesenkt, wie es sich für einen Schiffsjungen gehörte. Aber sie wagte es, einen Blick auf ihn zu riskieren.

In seinem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht blitzten hellwache Augen, die sie in der gleichen Weise prüfend musterten wie vorhin die Schiffsplanken. Dabei legte er die Stirn in tiefe Falten, und gerade, als sie begann, sich Sorgen zu machen, ob sie ihn verärgert hätte, fragte er unvermittelt: „Bist du nicht der Friesenjunge, der lange Timo??"

Ah – er hatte nur versucht, sich an sie zu erinnern! Sie nickte schnell. „Jawohl, der bin ich. Timo Lornsen von Strand." Sie probierte, in den Beinen etwas einzuknicken, damit sie kleiner wirkte und er nicht zu sehr zu ihr aufsehen musste.

Seine Züge erhellten sich. „So siehst du also aus, Timo Lornsen von Strand, und ich hab' mich schon gewundert, wo du steckst!"

Sie hob erstaunt die Schultern. „Ich? Wieso ... ich arbeite meist in der Bilge und Back."

„Hm, merkwürdig, dass du mir da noch nicht begegnet bist, bei jedem Wachwechsel habe ich mich darum zu kümmern, dass die Bilge trocken übergeben wird und die Backsmitglieder ihre Fleischportionen erhalten. – Es kann natürlich sein, dass ich da woanders zu tun hatte, es gab nämlich Probleme mit der Kompasslampe, und die Laternen achtern musste ich auswechseln." Er machte eine Pause, kniff die Augen zu Schlitzen zusammen ... und fragte übergangslos: „Thorsson hat mir erzählt, dass du derjenige gewesen bist, der Alarm geschlagen und somit knapp die Strandung vor Amrum verhindert hat?"

Sie fühlte sich wie überrumpelt, für einen kurzen Augenblick geriet sie vor lauter Verlegenheit ins Stottern. „Äh – ja, ich ... ich ... kannte die verschlickte Stelle von meinen Wattgängen her."

Er pfiff leise durch die Zähne. „Zum Donner noch eins, dass du Jungspund so gut zwischen Schlamm und Schlick unterscheiden kannst, das macht dir so leicht keiner nach. – Jammerschade, dass ich den Vorfall nicht mitbekommen hatte, kontrollierte da gerade im Unterdeck die Fracht, ob alles richtig vertäut ist und hörte plötzlich ein übles Knirschen! Hatte schon gedacht, es ist vorbei ..." Er schauerte ein wenig zusammen, als stünde ihm eine grässliche Vision vor Augen, dann fuhr er fort: „Das musst du mir ein anderes Mal genauer erzählen! Doch nun ... wir müssen hier mit der Arbeit weitermachen. Ich erklärte gleich, was zu tun ist. Es ist eine einfache Aufgabe, aber sehr wichtig. Sperr' also die Lauscher auf!"

„Das werde ich," versicherte sie. „Die Bilge auszupumpen ist ja auch sehr wichtig. Unangenehm, aber notwendig."

Er machte große Augen und strahlte. „Exakt, du hast es erfasst, Bürschchen! Ich merke schon, du zeigst Verantwortung! Aus dir wird mal ein brauchbarer Seemann werden. – Und heute wirst du etwas Neues lernen, nimm' das ..." Er bückte sich zur Kiste hinunter, holte einen Scheuerstein sowie einen Lappen hervor und drückte ihr beides in die Hand; anschließend wies er ihr einen Platz in der hinteren Reihe zu.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt