Ein neues Leben

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Mit sicheren Schritten stapfte Hauke vorwärts. Wie immer behielt er die Umgebung scharf im Auge. Es war Ebbe; die See hatte sich so weit zurückgezogen, dass sich das Watt, ein wellenförmig gemusterter schwarzgrauer schimmernder Teppich aus Schlick und Sand, in voller Breite ausdehnte. Große und kleine Wasserrinnen, Priele genannt, blinkten in der Sonne, und über allem wölbte sich der Sommerhimmel wie eine riesige blaue Glocke.

Zufrieden reckte Hauke den Kopf. Dies war sein Königreich, hier kannte er sich bestens aus, davon lebte er. Für ihn bot das Watt alles, was er brauchte, und da er kühn genug war, zu wagen, was sich sonst niemand traute, konnte er gut davon leben. Da gab es nicht nur Essbares wie Muscheln, Krabben, Vogeleier, sondern auch wertvollen Torf, der unter dem Schlamm verborgen lag, und nach Sturmnächten fand er als Krönung seiner Suche gestrandete Schiffe, die inmitten mancherlei Schätze wie ein trauriges Gerippe auf den Sandbänken lagen.

Besonders die Leichen Ertrunkener waren ein huldvolles Geschenk des Meeres. Er brauchte den Toten nur die wertvollsten Gegenstände abzunehmen - im Angesicht des Todes raffte jeder sein bisschen Habe an sich - und es in seinen Sack zu stopfen, um sie weiterzuverkaufen oder einzutauschen. Niemand fragte nach ihrer Herkunft, und mit seinem Flachboot gelangte er schnell von Insel zu Insel. Nach uraltem Strandrecht gehörte alles, was an den Strand gespült war, auf dem Watt lag oder in der See trieb, dem Finder. Es war leicht verdientes Brot - und warum sollte er nicht alle Mittel, alle Kenntnisse nutzen, die ihm zu Gebote standen? Unter den Strandingern genoss er immer noch eine gewisse Achtung; zumal er jedes Mal zur Stelle war, wenn er gebraucht wurde. Gerne vertraute man ihm Briefe, Päckchen oder sonstige Gegenstände an, die er zuverlässig beim Empfänger ablieferte. Sein sicherer Instinkt spürte schnell das Herannahen einer Unwetterfront, und so war er meist der Erste, der die Leute warnte.

Er galt als Hüter von Strand, ohne je dazu ernannt worden zu sein, er war mutiger als andere, die stets nur des Nachts auf „Strandgang" waren, um nicht Gefahr zu laufen, vom Strandvogt Iwe Mannis erwischt zu werden, der mit seiner Tochter Eilien auf der Hallig Süderoog wohnte und stets schnell zur Stelle war. Ihm nämlich war das gefundene Gut abzuliefern, das er für den rechtmäßigen Eigentümer aufbewahren musste; meldete sich dieser oder sein Erbe binnen einer Jahresfrist nicht, ging alles an den derzeitigen Landesherrn von Strand, dem Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorf. Wer sich weigerte, dem Folge zu leisten, wanderte ins Gefängnis. Manchmal aber drückte der Strandvogt ein Auge zu und jeder hatte den Gewinn davon - außer dem Herzog natürlich, der dabei leer ausging. Bei Iwe wusste man nie so genau, wie er reagieren würde.

Hauke jedenfalls kümmerte sich weder um ihn noch um die anderen Strandvögte, sie konnten nicht überall zugleich sein. Im Schlicklaufen - dem Wandern über die Wattenfelder - hatte er es zur Meisterschaft gebracht, niemand wagte sich so weit und so lange hinaus wie er.

Aber jetzt war es an der Zeit, seine Geheimnisse zu teilen, und heute war es soweit. Schließlich sollte das Mädchen seine Komplizin werden, dafür hatte er sie herangezogen. Bei seinem eigenen Fleisch und Blut würde er es nicht wagen, es war zu gefährlich. Aber bei einem Findelkind war es etwas anderes. Es musste erst beweisen, wozu es taugte.
„Lyka, bleibe dicht hinter mir!", rief er.

Lorena gehorchte sofort. In den elf Jahren, die seit jener Sturmnacht vergangen waren, hatte sie gelernt, dass Folgsamkeit das beste Mittel war, um seinen Jähzorn nicht zu wecken. In seiner mürrischen Art hatte er stets gut für sie gesorgt, er, der kauzige Einzelgänger, der die Zurückgezogenheit liebte und jede Geselligkeit mied. Doch manchmal reichte der geringste Anlass, und er hob die Hand gegen sie. Meist gelang es ihr, rechtzeitig zu flüchten.

Ihren Namen hatte er von Anfang an nicht gemocht. „Lorena ...? Das ist doch kein Name! Der klingt ja heidnisch. Ich nenn' dich Lyka, das passt besser hierher. Das ist ein Name."
Anfangs hatte sie noch protestiert. "Lorena. Ich heiße Lorena!"
Ihr Name, und der Nachhall brüllender Stimmen in einem schrecklichen Sturm, dazu verschwommene Bilder von bärtigen Gesichtern und diese grässlich kalte dunkle See waren das Einzige, woran sie sich erinnerte. Ihr Name war ihr kostbarster Besitz, das Einzige, was ihr noch geblieben war, daran klammerte sie sich fest - doch vergeblich, Hauke bestand stets hartnäckig auf "Lyka". Ihr Starrsinn stachelte ihn noch mehr auf.
"Wer weiß, woher du kommst ... nicht mal das Meer wollte dich", hatte er ihr wütend entgegengeschleudert, „an den Strand bist du gespült worden, ich hab' dich aufgelesen und aufgezogen. Jetzt bringe ich dir bei, wie du überlebst ... reicht das nicht? Du solltest mir dankbar sein!"

Irgendwann hatte sie aufgegeben und ergeben genickt. Selbst das unersättliche Meer hatte sie nicht gewollt, wozu dann auf ihren richtigen Namen bestehen? Vielleicht war Lorena ohnehin ein Unglücksname.

Das Friesische, das aus verschiedenen Inseldialekten bestand, hatte sie leidlich gelernt, zumal die paar Brocken ihrer Muttersprache, die sie noch kannte, ähnlich klangen. Ihre Heimat konnte also nicht allzu weit entfernt von den Uthlanden sein, aber das hatte sie bisher noch nicht herausbekommen. Wenn sie sich vom Äußeren her mit den anderen Mädchen vom Strand verglich, musste sie ungefähr um die fünfzehn, sechzehn Jahre zählen. Vielleicht aber wirkte sie durch ihre Größe älter, als sie in Wirklichkeit war? Sie war so schnell aufgeschossen, dass sie bei ihren Röcken die Säume nicht so flink aneinandernähen konnte, wie sie herauswuchs. Wie weit mochte das noch gehen? Sie reichte dem hünenhaften Hauke schon jetzt bis an die Schulter!

Vor einer Woche hatte er ihr plötzlich Hemd, Jacke und Hose vor die Füße geworfen. Sie waren salzdurchtränkt gewesen, stammten wohl aus einer zertrümmerten Kleiderkiste, die er irgendwo im Watt aufgefunden hatte. Mit einem giftigen Blick hatte er sie angesehen. „Zum Donner, ich brauche keine Frau im Haus! Ich will einen Burschen, der mir bei der täglichen Arbeit hilft! Und dieser Bursche bist ab morgen du! Deine Schonzeit ist vorbei, mir reicht's. Ich weiß, du bist kräftig und wirst das schon schaffen. Von heute an trägst du das da!!"

Sie hatte fast geheult. „Männerkleider? Keine Strandingerin läuft so herum. Man wird mit Fingern auf mich zeigen oder noch Schlimmeres!" Er hatte einen Tobsuchtsanfall bekommen. „Was willst du mit Frauenkleidern im Watt, he? Wie willst du mit nassen Röcken durch die Priele kommen? Als Fremde stehst du sowieso außerhalb unserer Gesetze, also hat dich die Sitte nicht zu kümmern. Hosen sind für dich gut genug." Also hatte sie ohne Widerrede die Burschenkleider gewaschen und geplättet.

Heute trug sie diese zum ersten Mal und kam sich reichlich seltsam darin vor - fast wie eine fremde Haut, in die sie geschlüpft war.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt