Unterricht

283 43 39
                                    

Lorenas Plan ging auf.

Zwei Tage später war Iwe am frühen Abend zu Besuch in die Pellwormharde gekommen und hatte Hauke zu sprechen gewünscht. Die beiden Männer wechselten ein paar Worte miteinander, ein kräftiger Handschlag – und dann hatte sich Iwe wieder auf seine Kontrollrunde gemacht, nicht ohne vorher Lorena, die von der anderen Zimmerecke aus still zugesehen hatte, komplizenhaft zuzuzwinkern.

Mehr war nicht nötig gewesen; unter Friesen wurden nie viele Worte gemacht. Ehrgefühl und Verlässlichkeit waren selbstverständlich. Nun brauchte Hauke zum Strandgang nicht mehr die Nacht abzuwarten oder in ein Versteck zu huschen, sobald Iwe auftauchte, sondern konnte ungestört seinen Interessen nachgehen. Andere an seiner Stelle wären übermütig geworden, nicht aber Hauke. Nach außen hin lebte er wie immer, nahm sich nur das, was er brauchen konnte und vergaß nie den Anteil für den Strandvogt.

Im Gegenzug sagte er kein Wort mehr gegen ihre Freundschaft zu Eilien, und umgekehrt schien auch Iwe froh darüber zu sein, dass seine Tochter endlich Gesellschaft hatte. Lorena teilte sich ihre Zeit gut ein: sie verrichtete die Arbeit noch flinker, lieferte den frisch gestochenen Torf unverzüglich bei Tjark ab und machte sich auf den Weg nach Süderoog, je nach Gezeitenstand zu Fuß oder mit dem Boot. Manchmal ließ es das wechselhafte Frühlingswetter nicht zu, und so waghalsig war Lorena nicht, den blanken Hans aus Übermut herauszufordern.

Nach einer ordentlichen Stärkung – Krabben- oder Bohneneintopf, manchmal auch Eiliens Spezialität: Eierkuchen von Möweneiern – begann der Unterricht.
Flüssig zu lesen, fiel Lorena recht schwer, sie war ungeduldig mit sich selbst und verstand nicht, warum sie an einzelnen Buchstaben festklebte, während Eilien in der gleichen Zeit ganze Sätze vorlesen konnte. Schließlich bestand Eilien darauf, dass sich Lorena die Buchstaben solange einprägte, bis sie das Alphabet fehlerlos hersagen konnte. Danach erkannte sie Worte und zusammenhängende Sätze schneller; es begann ihr sogar richtig Spaß zu machen. Leider gestaltete sich das Schreiben weiterhin schwierig; sie brachte kaum die Konzentration auf, immer aufs Neue die Buchstaben zu malen. Oftmals war sie versucht, Feder und Tintenfass an die Wand zu werfen, aber sie beherrschte sich mit äußerster Willenskraft.

Eilien bemerkte ihren inneren Zwiespalt sehr wohl und redete ihr gut zu. „Du hältst die Feder viel zu verkrampft ... und du drückst so stark auf, als wolltest du die Buchstaben ins Papier stanzen, kein Wunder, wenn die Tinte in alle Richtungen spritzt!"

So auch heute wieder. Seufzend ließ Lorena die Feder sinken und betrachtete ihre Hände. Kräftig und braun waren sie, die Innenflächen von der harten Arbeit schwielig. Selbst Holzsplitter blieben nur oberflächlich darin stecken. Sie ließen sich ganz leicht herausziehen, falls sie nicht schon vorher herausrutschten. Früher war die Haut rissig gewesen, aber dank Eiliens Salbe waren alle Schrunden gut abgeheilt und ihre Hände sahen wenigstens von oben betrachtet so aus, als gehörten sie zu einem Mädchen und nicht zu einem Fischerjungen.

Anklagend hob sie die Hand vor Eiliens Augen. „Glaubst du wirklich, dass man mit einer solchen Hand schreiben kann? Du hast so schöne lange schlanke Finger, guck' dir mal meine an!"

Eilien neigte sich vor und verglich. „Es stimmt, deine Finger sind viel dicker. Aber das dürfte nichts ausmachen, ich habe mal einen Krämer gesehen, der hatte so fette Finger, dass man kaum die Knöchel sah. Trotzdem konnte der damit schreiben, ganz leicht und ohne einmal innezuhalten. Alles eine Sache der Übung; also streng' dich an!"

Zähneknirschend beugte sich Lorena erneut über das Papier. Schreibunterricht war eine Folter, und sie hegte die düstere Ahnung, dass sie es in dieser Kunst nicht weit bringen würde. Sie war wohl wirklich für andere Dinge geboren. Mit äußerster Konzentration führte sie die Feder hoch, in einem sanften Bogen wieder hinunter und ließ den Strich in einem leichten Schwung enden.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Where stories live. Discover now