Schicksal

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Sie drang nicht weiter in ihn. Plumpe Neugier würde diesen kostbaren Moment, in dem er sich öffnete, sonst zerstören. So nickte sie ihm nur aufmunternd zu.

Er tat einen tiefen Atemzug ... nüchtern, fast emotionslos, kamen seine Worte über die Lippen. "Als ich noch jung war, um die zwanzig, war ich reich. Habe Haus und Hof besessen, ein holdes Weib und drei Söhne. Zweimal suchte uns die Sturmflut heim und nahm mir bei jedem Mal mehr Land fort. Die ständigen Deicharbeiten kosteten mich die letzte Münze. Danach war uns endlich ein friedliches Jahr vergönnt ... aber dem dritten Mal folgte nicht nur die völlige Zerstörung, sondern auch der nasse Tod. Fürchterlich heulte der Sturm, so wie eben heute, Woge um Woge rollte heran, immer näher, sie drückten Türen und Fenster ein, zerschlugen das Haus, wuchsen noch höher und krachten über uns, die wir am Dach festgebunden ausharrten, zusammen! In den brodelnden Strudeln wurden mir Weib und Kinder aus meinen Armen gerissen ... sie ertranken jämmerlich vor meinen Augen! Ihre Todesschreie, ihr hilfloser Blick, der um Rettung flehte, während das Wasser ihren Mund füllte ... und ich konnte nicht helfen!! - Um mich herum toste das schwarze Wasser, mir schwanden die Sinne! Als ich erwachte, mussten Stunden vergangen sein, denn die Flut war im Sinken ... ich war samt dem Rest vom Dach weitergetrieben worden und hing auf einem Berg von Trümmern fest. Welche Gefühle hatte ich da! Ich als Einziger, hatte überlebt. Und wofür?? Für wen?? Wie gerne hätte ich mein Leben für Weib und Kinder gegeben! Meine Hilfeschreie hatte Gott nicht gehört, seither sind meine Gebete verstummt. Und meine übrigen Verwandten? Sie alle fanden ein nasses Grab in den Fluten, ihre Leiber habe ich nie wiedergesehen."

Schaudernd schloss Hauke die Augen. "Wie konnte ich da weiterleben, weitermachen wie bisher? Da habe ich den Spaten in den Deich gesteckt, den Heimatkoog in der Edomsharde verlassen und war auf die andere Seite der Insel, hinüber in die Pellwormharde, gewandert. Ein Hofknecht zu sein, anderen zu Diensten, ich, der einst selber der Herr auf meinem eigenen Hof gewesen war, lag mir nicht. Lieber wollte ich ein Schlickläufer werden, der den Blanken Hans überlistete und die Leute vor der Gefahr warnte. Künftig wollte ich nicht mehr aufbauen, was mir die Sturmflut ja doch zerstörte, ich wollte vom Meere nehmen, was es hergab. Das war nicht wenig, aber dafür riskierte ich ja auch mein Leben. Ich wollte es so, damit zeigte ich, dass ich der Stärkere war. Nie mehr will ich gottergeben hinter dem Deich auf die Gnade der Mordsee hoffen, einen unsichtbaren Gott um Schutz anbettelnd, den er ja doch nicht gewährt. - In unseren Chroniken stehen tausende Ertrunkene verzeichnet, dazu jene, die überlebt haben und dann am Marschfieber starben. - Nein, nein, ich erwarte mein Schicksal nicht feige hinterm Deich, ich blicke dem Blanken Hans direkt ins Auge!"

Ein tiefes Schweigen folgte.

Lorena war höchst bestürzt und gleichzeitig verwirrt - aber weniger wegen seines traurigen Schicksals, sondern vielmehr über seine Schwäche. In sanftem Ton sagte sie: "Das ist furchtbar, so entsetzlich ... aber auch die anderen Inselbewohner haben alles durch die Flut verloren, trotzdem halten sie durch. Sie nehmen das Leid hin, trauern, machen weiter und werden mit reicher Ernte gesegnet. Immer wieder."

Hauke schnaufte verächtlich auf. "Ja. Wieder und wieder, erkauft mit Blut und dem Leben der Eltern, Kinder und Kindeskinder. Bis zur nächsten großen Flut, und die kommt immer häufiger. Der Reichtum Strands ist eine Verlockung des Teufels! Sie alle lassen sich blenden davon! Ich habe mein Weib und Kinder aus dem Schlick ausgegraben, ihre entseelten Leiber in den Armen gehalten. Das will ich nicht ein zweites Mal erleben!"

Er stieß ein hartes Lachen aus. "Oh, welch eine kindische Gottesfurcht, dabei sind sie nur blind! Das Deichbauen ist vergebens, das Meer steigt immer höher, das Land wird versinken! Die Strandinger hocken satt und zufrieden auf ihren Höfen wie die Glucke auf ihre Küken, ich aber bin jeden Tag in den Watten unterwegs und sehe das langsame Wachsen der Flut. Heimtückisch schleicht sich der Blanke Hans heran und wird eines Tages wieder schrecklich zuschlagen. Es braucht bloß einen Orkan hinter der Tide, dazu ein Neumond vielleicht, und die Springflut wird zur Sturmflut. Und ich frage: wozu noch deichen? Ich habe keinen Erben, keine Familie mehr, für die sich das Schuften noch lohnen würde, sonst täte ich es, glaubs mir! – Hast du neulich den Boden unter deinen Füßen beben gespürt? Bevor wir nach oben gegangen sind?"

Sie nickte beklommen. Ja, hatte sie. Als sie am Fenster gestanden und die Sturmwolken beobachtet hatte. Ein unheimliches Gefühl ...

"Siehst du. Der Grund ist nicht mehr fest, etwas wühlt und arbeitet da unten, und eines Tages wird es furchtbar hervorbrechen. – Nun, was solls, das Wasser ist fast abgezogen, da will ich gleich in die Edomsharde hinüber, um zu sehen, was der Sturm angerichtet hat. Ob Tjark Brodersen deichen muss."

"Wieso? Was interessiert dich der Salzvogt so sehr?"

Er sah sie geringschätzig an. "Da du eine Fremde bist ..."

Nach elf Jahren? dachte sie und verbiss sich eine wütende Bemerkung.

"... erkläre ich es dir. Es gibt einen bestimmten Grund du kannst ja nicht wissen, was jeder alteingesessene Strandinger weiß. - Hast du schon einmal vom Spadelandrecht gehört?"

"Ei - ein sehr altes Recht der Friesen?, " antwortete sie zögernd. Worauf wollte er hinaus?

Er nickte zufrieden. "Es ist jahrhundertealt, selbst der König muss sich ihm beugen, sonst verliert er Land und Leute. Also, mit Spadeland ist Spatenland gemeint, ein Stück Gebiet, das dem Meer abgetrotzt wurde; demnach muss jeder das Stück Deich, hinter dem sein Acker liegt, in einem guten Zustand halten. Tut er es nicht und wird es zum Verderben seiner Nachbarn, wird er lebendig mitsamt den Steinen seines Hauses in den Deich eingemauert – kann er es nicht, muss er den Spaten in den Deich stecken. Damit hat er das Anrecht auf seinen Besitz aufgegeben, und wer den Spaten herauszieht, dem gehört künftig dessen Land und hat damit auch die Deichpflicht übernommen. So war es Tjark gewesen, der meinen Spaten herausgezogen hatte. Seitdem gehört ihm mein Land, und ich will wissen, was nach diesem Unglückstag aus meinem ehemaligen Deichstück geworden ist! Komm mit mir, ich will dir zeigen, was ich meine! Vielleicht verstehst du uns Strandinger dann besser. Aufräumen können wir später. Dann hat sich der Schlamm gefestigt und kann besser weggeschafft werden."

"Das ist wie Tuulgraben im eigenen Haus", seufzte sie.

"Nun, das können wir mittlerweile ja ganz gut", erwiderte er fast tröstend.

Sie horchte auf. Wir, hatte er gesagt. WIR. Das klang wie eine Anerkennung!

Hauke ging zum Stall, holte sein einziges Pferd heraus und spannte es an den Wagen. Lorena nahm sich noch schnell den dicken Wollumhang und schlang ihn um Kopf und Schultern. Die Luft war reichlich kalt und feucht, es kitzelte bereits im Hals.

Was sie unterwegs sahen, war keine Augenweide. Die Wiesen sahen gründlich zerzaust aus, das nasse Gras lag platt wie ein grünschillernder Teppich, einige Bäume lagen kreuz und quer, manche Felder standen kniehoch voller Wasser, und mitunter mussten sie durch eine riesengroße Pfütze fahren. Aber immerhin sanken sie nirgendwo im weichen Boden ein.

"Sieht ja doch nicht so schlimm aus, wie sich der Sturm angehört hatte." Lorena musste gegen den Wind anschreien, denn er hatte wieder zugenommen und riss ihr die Worte aus dem Mund.

"Warts ab! Noch sind wir nicht da! Und die überschwemmten Felder sind hin, es dauert Monate, bis die sich vom Salzwasser erholt haben." Hauke ließ leicht die Peitsche knallen, der Wagen machte einen Ruck nach vorn.

In der Ferne tauchten vereinzelte Häuser auf. Bei jedem dritten fehlte das Dach, der Hausrat lag in der Gegend verstreut, die Zäune um die Grundstücke schienen wie plattgewalzt. Umgekippte Heuwagen versperrten die Wege. Mit Hacken und Schaufeln räumten die Menschen den Schutt und Schlamm weg.

Verlegen duckte sich Lorena in ihren Umhang. Da hatte sie vorhin den Mund wohl zu voll genommen.

Zu ihrer Verwunderung fuhren sie bei Tjarks Anwesen vorbei.

Hauke bemerkte ihren fragenden Blick. "Anhalten ist zwecklos, wir fahren gleich zur Bucht hinunter", erklärte er.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Where stories live. Discover now