Aussprache / Amrum

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Zuerst wollte Angst in ihr hochkommen, doch dann war sie nur noch erleichtert. Besser eine offene Auseinandersetzung, ein reinigendes Gewitter als dieses eisige Schweigen!

Wenn ich in Furcht erstarre, ist es aus.

Gemächlich, fast würdevoll schritt sie zum Stuhl, setzte sich nieder, hielt dabei seinen Blick fest, als wollte sie ihn auf seinen Platz bannen. Legte die Hände auf den Tisch wie zum Zeichen ‚sieh' her! Ich habe nichts zu verbergen!'

Unverwandt starrten sie einander in die Augen, als suchte jeder in den Pupillen des anderen eine Schwäche, ein leichtes Nachgeben, ein Zittern, ein Anzeichen von Kapitulation ...

... doch sie waren einander ebenbürtig; sie fixierte ihn unbeirrt weiter, aber auch Hauke senkte den Blick nicht. Nach wie vor besaß er eine einschüchternde Präsenz, hielt sich kerzengerade, die Gesichtszüge wie in Stein gemeißelt. Er saß mit dem Rücken zum Fenster, und seine breite Gestalt warf einen Schatten auf sie und den Tisch.

Doch Lorena merkte ihm an, wie schwer es ihm fiel, den Anfang zu machen. Sein Mund bewegte sich, aber es kam kein einziger Ton heraus. Gewiss wollte er ihr darlegen, dass er das Gesetz an ihr vollziehen musste – nämlich sie zu ertränken. Und dass sie heute um Mitternacht hinausgingen, und nur er derjenige war, der zurückkehren würde.

Allmählich hatte sie genug von dieser Ungewissheit, dem Hin und Her, diesem herumschleichen. Es reichte. Und ob sie sich einfach ertränken lassen würde? Eher zog sie ihn mit sich hinab in die Tiefe!

Sie erhob sich halb, beugte sich vor ... brachte ihr Gesicht direkt vor seinem ... und fragte geradeheraus: „Wirst du ... willst du mich in der Wehle ertränken? Das ist bei euch ja so üblich?"

Er riss die Augen auf — seine anschließende Reaktion fiel so heftig aus, dass sie auf den Stuhl zurück plumpste.

Als hätte sie gerade einen Kübel voller Mistjauche über ihn ausgekippt, wischte er sich angeekelt mit beiden Händen über das Gesicht und schnaubte: „Ersäufen? Ich dich??" Er schien dermaßen fassungslos, dass er den Mund zuklappte und zunächst gar nichts mehr sagte.

Und sie ihrerseits wagte keinen Mucks mehr ...

Er tat ein paar tiefe Atemzüge, dann sprach er wieder. „Warum sollte ich das tun?" Er runzelte die Stirn, schien tief gekränkt.

Nun begriff sie gar nichts mehr! „Wie-wie-so nicht?", brachte sie heraus.

„Das sehen unsere Gesetze nicht vor", erklärte er mit einem pfiffigen Lächeln. „Erstens: Du bist keine Strandingerin und somit unterliegst du nicht der Tradition. Zweitens: du bist nicht meine Tochter, also brauche ich nicht dein Scharfrichter zu sein, wie es das alte Gesetz gebietet."

Sie schloss halb die Augen, lauschte innerlich seinen Worten nach. „Du unterliegst nicht ... ich brauche nicht ..."
Sie brauchte eine Weile, um seine Antwort wirklich zu verstehen, zu sehr hatte sie sich das Schreckliche ausgemalt. Sie fühlte sich wie eine Todeskandidatin, der im letzten Moment der Galgen erspart blieb. Sie musste den letzten Gang nicht antreten! Da hatte sie ihn aber völlig falsch eingeschätzt. Ein Hauke Eissen unterwarf sich nicht so ohne weiteres der Tradition. Von seiner Seite aus drohte keine Gefahr - außer der, dass er manchmal grob mit ihr umging, aber als rauer Friese konnte er wohl nicht anders. Obwohl, wenn sie an Iwe Mannis dachte, schien dieser feiner, zartfühlender im Verhalten zu sein ...

Sie hob den Blick wieder, beobachtete Hauke. Ihm war die Betroffenheit immer noch deutlich anzusehen. Er kam wohl seinerseits nicht darüber hinweg, dass sie ihm zutraute, sie wie eine Katze ersäufen zu wollen. Ein leiser Verdacht drängte sich ihr auf: vielleicht noch nicht einmal dann, wenn sie seine Tochter wäre! Am liebsten hätte sie jetzt einen Freudentanz aufgeführt.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Where stories live. Discover now