Die Strafe

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Es zeigte sich, dass Lorena ihm übler mitgespielt hatte als gedacht. Nicht nur der Rücken machte Hauke zu schaffen, obendrein hatte er sich die Schulter geprellt, als er von ihr an die Wand gerammt worden war. Selbst das Atmen schien ihm Schmerzen zu bereiten; anscheinend hatte sie ihm bei der Umklammerung die Rippen gequetscht. Den Arm konnte er auch nur halb heben.

Sie wurde sich selbst unheimlich. Aber noch seltsamer war, dass er mit keinem Wort auf das Geschehene zurückkam. Er ließ sie stillschweigend tun und lassen, was sie wollte und ging ihr soweit wie möglich aus dem Weg.

Sie beschlich ein ungutes Gefühl. Was war mit ihm, warum wagte er keine Bestrafung – wurde er alt? Und sie? War sie zu weit gegangen? Sie hätte sich dem Streit entziehen, aus dem Haus flüchten müssen, stattdessen hatten sie sich gegenseitig Verletzungen zugefügt und Gewalt angetan.

Was würde als Nächstes geschehen? Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass jetzt die Ruhe vor dem Sturm herrschte. Er war sicher ungeheuer zornig auf sie und sann Tag und Nacht darüber nach, wie er sie loswerden konnte. Denn nun hatte sie seine Ehre, sein verlorenes Ansehen noch tiefer in den Schmutz gezogen.

Selbst die stolzeste, reichste Strandingerin durfte sich nicht anmaßen, ihrem Vater, der zugleich wie ein Gott für sie war, zu widersprechen! Nach altem friesischen Recht wurden Verfehlungen der Töchter hart bestraft; der Vater musste entscheiden, was mit ihr geschehen sollte und vollstreckte auch selbst das Gericht. An Armen und Beinen mit Stricken gebunden, wurde die Unglückliche um Mitternacht in einer Wehle ertränkt - einer jener Wasserlöcher oder Teiche, die an Stellen entstanden waren, wo die Sturmflut einen Deich durchbrochen hatte. Eine solche Wehle war abgrundtief. Das Wasser pechschwarz. Und sehr kalt.

Zumeist erging eine solche Verfahrensweise in dem Fall, wenn sich eine Tochter des Strandes mit einem Fremden eingelassen hatte. Dies lag dem Glauben zugrunde, dass durch eine solch drakonische Strafe schweres Unglück und Leid abgewendet werden konnte. Schlechte Sitten, Ungehorsam und Schande machten den Strand anfällig für die Wut des blanken Hans, somit wurden die Übeltäter mithin der Flut geopfert, um sie gnädig zu stimmen.

Und sie, Lorena, hatte mit ihrer Tat Hauke ebenfalls in Schande gebracht! So gesehen wunderte es sie, warum sie überhaupt noch lebte. Wie lange würde Hauke zu einer Entscheidung brauchen?

Eilien hatte recht behalten, sie hatte meine „Flut" vorausgesehen. In meinen Augen hat sie etwas gesehen, eine Art Grausamkeit vielleicht. Und nun weiß ich es selbst. 

Eine plötzliche Erkenntnis dämmerte in ihr auf. Es ist der Schmerz, der mich so rasend vor Wut macht ... und ... mein Gott, ja ... morden könnte...?!


Im Haus hielt sie die Ungewissheit nicht länger aus, sie floh – auch vor sich selbst

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Im Haus hielt sie die Ungewissheit nicht länger aus, sie floh – auch vor sich selbst. Wanderte auf den Deichkronen entlang, ließ den Blick über die Insel schweifen ... über die sattgrünen Wiesen, auf denen Rinder und Schafe weideten, die schützenden Köge mit den stattlichen Bauernhöfen, die blühenden Felder ... und über die blaugrüne Nordsee, in der die Halligen schwammen wie kleine Inseln.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Where stories live. Discover now