Zehn Tage

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Zehn Tage.

Zehn Tage voller quälender Gedanken, Zweifel und Fragen lagen vor ihr. Trotzdem kam Lorena diese Zeit gelegen – für Hauke, dass er wieder zur Besinnung kam, für sie selbst, dass sie innere Stärke sammeln konnte; nach seiner Rückkehr würde es bestimmt nicht leicht werden. Vielleicht kam er ja geläutert zurück? Oder finsterer, wütender denn je ...

Gerade jetzt hätte sie Eiliens Beistand gebraucht! Doch sie schämte sich für Hauke, noch konnte sie der Freundin nicht in die Augen sehen, solange nichts geklärt war. Vorher musste sie Hauke zum Reden bringen.

Zehn Tage.

Während dieser Zeit suchte Lorena oft Zuflucht in den Watten und deren grenzenlose Weite. Ließ Wind und Sonne auf sich wirken, öffnete sich der Natur, saugte alles ein ... rannte und sprang solange über Priele und Pfützen, bis der Kopf frei wurde, die Gedanken sich klärten. Von solchen Ausflügen wieder heimgekehrt, fühlte sie sich erfrischt und wie neugeboren, hatte den inneren Frieden wiedergefunden.

Zehn Tage.

Sie fühlte sich niemals einsam. Überall, wo sie sich aufhielt, ob drinnen oder draußen, befand sich auch Fenja. Mit klugen Augen beobachtete das Huhn alles, was sie tat, und begleitete sie mit lustigen Gackergeräuschen, als wollte es sie unterhalten. Es folgte ihr nur nicht ins Watt, sondern setzte sich stets auf den Ast des letzten Baumes vor dem Deich und wartete auf ihre Rückkehr. Schon längst sah Lorena in Fenja nicht mehr nur ein Tier, sondern eine Seelenverwandte. Mit Federn allerdings.

Zehn Tage des Kräftesammelns, der Besinnung, des Vorbereitens auf den Sturm.

Dann waren sie vorüber.

Lorena sah ihn schon von weitem kommen, denn sie hatte sich am Fenster positioniert, hielt den Blick unverwandt geradeaus gerichtet. Bewusst atmete sie tief ein und aus, der gleichmäßige Atem beruhigte ihren Herzschlag und ihre Gedanken.

Als wenn sie es geahnt hätte: ihre Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten! Beim Gehen schwankte er so merkwürdig ... sollte sie hinaus ...? Jedoch befahl ihr der Instinkt, an Ort und Stelle auszuharren, bis ...

... das Unvermeidliche geschah.

Minuten später polterte es, die Tür schwang weit auf und knallte gegen die Wand. Haukes wuchtige Gestalt füllte den Rahmen ganz aus. Bartstoppeln ließen sein Gesicht fleckig aussehen, die sonst so sorgfältig gekämmten, mittlerweile grauen Haare lagen wirr um seinen Kopf, als hätten Mäuse darin Nester gebaut. Aber das Schlimmste war der Bierdunst, der ihn umwaberte.

Angeekelt hielt Lorena sich die Nase zu, um nicht atmen zu müssen. Das hätte sie niemals von ihm erwartet!

„Umsonst ... alles umsonst", krächzte er beim Hereinkommen, wankte zu seinem Wandschrankbett, „dieser verfluchte Iwe!", verkroch sich in die Schafwolldecken und schlug die Schranktür zu. Nicht lange darauf ertönte ein lautes Schnarchen.

Langsam löste sich Lorena aus ihrer Erstarrung. Anscheinend war er nach seiner Entlassung zunächst in einen Gasthof gegangen und hatte sich bis kurz vor dem Umfallen betrunken, bevor er sich auf den Heimweg gemacht hatte. Und er hegte einen ungeheuren Zorn auf Iwe ... und was bedeutete „es war alles umsonst"? Hatte Hauke Pläne gehabt, von denen sie nichts wusste? Dies würde einiges erklären. Dass er noch immer um seine verlorene Familie trauerte und deswegen zeitweise in ein tiefes Loch fiel, dies kannte sie schon, aber wieso fing er jetzt das Trinken an?

Ein Ausrutscher, sowas kann vorkommen. Es war einfach zuviel für ihn gewesen.

Sie wartete, bis er wieder nüchtern war und ansprechbar schien. Mit viel Geduld und gutem Zureden bekam sie heraus, was ungefähr geschehen war, gewann einen Einblick in seine verwundete Seele.

🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Where stories live. Discover now