Kapitel 73

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Schule war die Hölle. Nein, der ganze Tag, mein ganzes Leben war die Hölle!
Egal wie vorsichtig ich mich bewegte oder wie ich mich hinsetzte, jedesmal fühlte es sich so an, als würde ich mir die Haut auf meinem Rücken in Fetzen reißen. Und viel besser sah mein Rücken leider auch nicht aus.
Wie viele rote Striemen sich von meinen Schultern bis zu meinem unteren Rücken zogen, wusste ich gar nicht genau. Um sie zu zählen hatte mir einfach die Energie und der Mut gefehlt. Allerdings wusste ich ganz genau, dass sechs von ihnen aufgeplatzt waren und fürchtete mich jetzt schon vor den Narben die sich bilden würden.
Schnell drückte ich mir gegen die geschlossenen Lidern, um die aufkommenden Tränen zurückzudrängen. Dabei war es mir egal, was meine Deutschlehrerin davon halten mochte oder wie seltsam es auf Außenstehende wirkte.
Bisher hatte ich Narben von Peitschenhieben nur im Fernseher gesehen und mir war natürlich klar, dass Spielfilme nicht die gewissenhaftesten Informationsquellen waren, doch allein der Gedanke von Jamie Fraser aus der Serie Outlander ließ mich zusammenzucken. Sein ganzer Rücken war von Narben entstellt und auch wenn die Hiebe meines Vaters nicht mit den zwei Mal hundert Hieben nacheinander von ihm zu vergleichen waren stieg immer wieder das Bild von mir mit einem Narben übersäten Rücken vor meinem inneren Auge auf und ließ mich schaudern.
Was wenn mein Vater Spaß daran gefunden hatte? Wenn meine Strafe nun von Tag zu Tag aus zwanzig Hieben bestand? Allein bei dem Gedanken schien mein Rücken wieder in Flammen zu stehen.
Ungelenk lies ich meine Hände wieder fallen und starrte ohne etwas zu sehen nach vorne auf die Tafel. Mir war nie bewusst gewesen, für wie viele kleine Bewegungen man die Rückenmuskulatur benötigte, doch jetzt, wo jede Bewegung ein weiterer Schritt in die Hölle war, wurde es mir nur allzu schmerzhaft bewusst.
Nachdem ich heute morgen in der ungemütlichen Position von gestern Abend aufgewacht war, gelang es mir kaum überhaupt aufzustehen.
Tränenüberströmt und die Schneidezähne so tief in der Unterlippe vergraben, dass ich  Blut schmeckte, hatte ich es dann doch irgendwann geschafft mich auf die Knie zu quälen und nach einer langen Schluchzer durchsetzten Verschnaufpause auch auf die Füße. Genauso lange wie ich für das Aufstehen gebraucht hatte, ging es auch mit meinem restlichen Alltag weiter.
Anstatt wie sonst mich als erstes fertig zu machen humpelte ich sogleich in die Küche runter, um Kathrins Frühstück vorzubereiten. Ansonsten, da war ich mir hundertprozentig sicher, würde ich mindestens eine Stunde zu spät überhaupt erst damit anfangen können. Selbst so, musste ich mir einen Vortrag darüber anhören, dass ich meine Aufgaben gefälligst pünktlich zu erledigen hatte, wenn ich sie doch schon einplanen konnte, da unsere verwöhnte Prinzessin auf der Erbse zehn Minuten auf ihr Essen warten musste.
Ich hatte null Appetit auf irgendetwas und das Nutellatoast, welches ich am Ende runterschlang, schmeckte genauso gut wie Pape. Allerdings zwang ich mich schön langsam zu essen, da mir schon vor dem Gedanken graute, die Treppen wieder hochsteigen zu müssen. Dass ich zur Schule zu spät kam, war mir schon von vorne hinein klar. Ich hinkte in meinem Zeitplan genauso hinterher, wie ich jede Stufe einzeln in Angriff nehmen musste.
Allerdings dachte ich auch gar nicht daran, mich zu beeilen. Selbst so konnte ich mich vor Schmerzen kaum bewegen und das würde mit Geschwindigkeit nur noch schlimmer werden. Daher wurde mein heutiges Tagesmotto: 'Nimm dir so viel Zeit wie du brauchst.' Und nur dieser Einstellung hatte ich es zu verdanken, dass ich es überhaupt schaffte meine Morgenroutine hinter mich zu bringen, wobei ich das Duschen mit Grauen durch eine kurze Katzenwäsche ersetzte und allein für das Haarekämmen zehn Minuten verschwendete. Das schlimmste jedoch war die Wunden auf meinem Rücken zu säubern und eine Salbe draufzuschmieren. Ich brauchte vier Anläufe und danach war ich so erschöpft und zittrig, dass ich mich erstmal auf dem Toilettendeckel ausruhen musste.
Ich spielte auch kurz mit dem Gedanken Schule ausfallen zu lassen, doch nach einem kurzen Blick auf mein Handy, auf dem sich bereits ein Haufen Nachrichten von Ciara, Steven und einer unbekannten Nummer, die sich als Dyan herausstellte, türmten.
In ungefähr jeder von ihnen stand etwa drinnen: "Wo bist du?! Wir machen uns schon alle sorgen, soll jemand vorbei kommen?"
Obwohl ich eigentlich damit gerechnet hatte bis zu meinem 70sten nicht mehr lächeln zu können, entlockte mir ihre Besorgnis doch ein kleines Schmunzeln und da ich keinen Besuch von Krankenschwester Ciara riskieren wollte (Ich war mir nicht sicher ob ich das überleben würde) log ich schlussendlich, verschlafen zu haben und gleich loszufahren.
Das machte ich dann auch, obwohl Autofahren sich als eine ziemliche Tortur herausstellte.
Wenn es schon schlimm gewesen war, ein Shirt auf meine geschundene Haut zu ziehen, brachte mich jeder Kontakt mit der Rückenlehne fast um und der ungemütliche Holzstuhl auf dem ich jetzt saß war da auch nicht angenehmer, zu allem da meine Deutschlehrerin wie eine Schlaftablette wirkte.
Es war bereits die letzte Stunde vor der Pause, da ich die ersten beiden hatte ausfallen lassen. Ich meine, sich noch durch  die letzen zehn Minuten der zweiten Stunde durchzuquälen erschien mir als ziemlich sinnlos und früher hatte ich es nun mal nicht geschafft.
Allerdings sollte ich mir dringend den Stoff zum Nacharbeiten besorgen...
Zum bestimmt schon hundertsten Mal in dieser Stunde traf mich der strafende Blick meiner Lehrerin und ließ mich erschöpft aufseufzen, bevor ich gequält meinen Arm zwang sich zu heben, um ihr den Gefallen zu tun, mich am Unterricht zu beteiligen.
Ich bekam selbst kaum mit was ich schließlich sagte, nachdem sie mich dran genommen hatte, viel zu sehr war meine Konzentration darauf gerichtet sachte den Arm wieder auf das Pult zu legen, zum Einen da es mein angeschlagener Arm war, zum anderen da die Schultermuskulatur zu bewegen wieder mal eine Kettenreaktion aus Schmerzen in meinem Rücken hervorgerufen hatte. Aber da sie zufrieden nickte und mich danach in Ruhe lies, hatte meine Antwort anscheinend zumindest Sinn ergeben.
Als es dann endlich zur Pause klingelte, war ich mir nicht sicher, ob ich in das erleichterte Seufzen meiner Klasse einstimmen sollte.
Zwar würde ich von dieser blöden Stuhllehne und Mrs. Schlaftablette wegkommen, doch jetzt hieß es wieder Schultasche schultern und mich meinen Freunden entgegen stellen.
Daher glich mein erleichtertes Seufzen eher einem gequältem Stöhnen, als ich mich vom Stuhl hochstämmte und langsam meinen Mitschülern auf dem Gang hinterher schlurfte.
Immer an der Wand entlang, versuchte ich irgendwie den herumfuchtelnden Händen, und schwingenden Ellbögen zu entkommen konnte den ein oder anderen Treffer aber trotzdem nicht vermeiden. Vielleicht sollte ich einfach in ein Klassenzimmer huschen und mich dort solange verstecken bis sich der Gang wieder geleert hatte?
Doch daraus würde wohl nichts werden, denn in der gleichen Sekunde, in der ich das dachte ertönte aus der Schülermenge hinter mir eine Mädchenstimme: "Hey Tessa! Warte auf uns!"
Überrascht drehte ich mich um und kassierte dafür einen Schlag ins Kreuz, der mich scharf die Luft einziehen lies. Nur mit Not gelang es mir meine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bekommen, bevor mich Ciara und Steven lächelnd erreichten.
Um es schnell hinter mich zu bringen umarmte ich beide so kurz, dass  sie es nicht mal schafften, ebenfalls die Arme um mich zu legen, was natürlich der Sinn der Sache war.
"Hey ihr", murmelte ich kurz angebunden und kämpfte mich dann, die beiden praktischer Weise schützend hinter meinem Rücken, weiter die Wand entlang.
"Was hast denn du noch letzte Nacht getrieben, dass du so verschläfst?", fragte Ciara neckisch und ich konnte ihr Zwinkern in Richtung Steven gerade zu aus ihrer Stimme heraushören.
Ach das übliche, Hausaufgaben, von ihrem Dad verschlagen lassen und dann mit zerfetzter Haut einschlafen.
"Ich hab da dieses Buch gelesen und darüber die Zeit aus den Augen verloren", antwortete ich ausweichend und zwängte mich an zwei schwatzenden Mädchen vorbei.
"Na das Buch musste ja sehr spannend gewesen sein. Hieß die männliche Hauptperson etwa Dyan und hat gerade heiß mit der Protagonistin herumgeknutscht?"

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